Hamburg. Verletzt, krank, verunsichert, erfolglos – Ursachen und Wirkungen der Krisensituation. Dazu kommt die mangelnde Qualität im Kader

Die sportliche verpatzte Dienstreise nach Würzburg nahm für die Mannschaft des FC St. Pauli am Dienstag ein zusätzlich unerfreuliches Ende. Aufgrund des Wintereinbruchs war der Zugverkehr nördlich von Hannover am Dienstag zeitweise lahmgelegt. Gegen 16 Uhr, zwei Stunden nach der geplanten Ankunft in Hamburg, stiegen die Spieler, die am Montagabend beim Zweitliga-Aufsteiger Würzburger Kickers 0:1 verloren hatten, in Neustadt am Rübenberge vom ICE in den Mannschaftsbus um, der leer von Würzburg nach Hamburg unterwegs war. Das geplante Training am Nachmittag wurde abgesagt. Wenige Wochen nach dem Abschluss der Partnerschaft mit der Deutschen Bahn als „Mobilitätspartner“ hat der FC St. Pauli nun also seine erste Erfahrung mit den Tücken einer Bahnreise gemacht.

Diese war allerdings vergleichsweise harmlos, wenn man bedenkt, in welch kritischem Zustand das Team als Schlusslicht der Zweiten Liga ist. Es ist offensichtlich, dass sich die Mannschaft in einem fatalen Teufelskreis befindet. Die zahlreichen Verletzungen und häufigen krankheitsbedingten Ausfälle sind zweifelsohne ein Grund dafür, dass das Team nicht ansatzweise die Leistungsstärke der Vorsaison erreicht. Daraus resultieren Niederlagen – inzwischen schon acht – und mithin eine Bilanz von sechs Punkten aus nun schon zwölf Spielen. „Diese Punktzahl nach mehr als einem Drittel der Saison ist Wahnsinn“, sagt zu Recht Torwart Robin Himmelmann. Folgerichtig ist St. Pauli weiter Tabellenletzter, was die Spieler, die in der vergangenen Saison vor Selbstvertrauen strotzten, mental herunterzieht.

„In so einer Situation ist die Verletzungsanfälligkeit höher, weil diese psychische Belastung dazukommt. Diese Erfahrung haben wir gemacht. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns mal wieder Erfolgserlebnisse holen und das Ganze umkehren“, sagte dazu Trainer Ewald Lienen nach dem 0:1 von Würzburg, das zu allem Überfluss durch ein kurioses Eigentor zustande kam.

Es ist in der Tat ein Phänomen, dass Mannschaften in Abstiegsgefahr meist einen weit höheren Verletzungsstand haben als Teams an der Tabellenspitze. Vor einem Jahr konnte St. Pauli fast regelmäßig mit nahezu derselben Elf auflaufen und stand in der Tabelle glänzend da. Vor zwei Jahren dagegen, als der jetzt als Sportchef freigestellte Thomas Meggle für 13 Spieltage Cheftrainer war, hatte er zeitweise gar eine zweistellige Zahl von Ausfällen zu beklagen und gab das Team zur Saisonhalbzeit als Tabellen-18. ab – mit 13 Punkten. Diesmal könnten es noch weniger sein.

Der Zusammenhang zwischen einem hohen Verletzten- und Krankheitsstand und einer dramatischen Tabellensituation ist offenkundig. Fatal scheint dabei zu sein, dass beides jeweils Ursache und Wirkung ist. Viele Ausfälle führten zu Niederlagen und dem Sturz auf einen Abstiegsplatz. Der aus dieser Situation entstehende psychische Druck begünstigt wiederum eine erhöhte Anfälligkeit für Verletzungen und Krankheiten.

„Ich glaube nicht, dass es irgendeine Mannschaft auf der Welt gibt, die den Ausfall von so vielen Stammspielern verkraften kann“, sagte Lienen jetzt. „Bei uns waren in Würzburg 60 Prozent der Stammspieler nicht auf dem Platz“, haderte der Trainer weiter. „Mit der Truppe von heute wäre ein Punkt fast wie ein Sieg gewesen.“

Diese Aussagen verraten aber auch eine vielsagende Einschätzung über die Qualität der ihm zur Verfügung stehenden Spieler. Vor Saisonbeginn hieß es noch, man habe jede Position mindestens doppelt, zum Teil durch die Flexibilität einzelner Spieler gar dreifach besetzt – qualitativ annähernd gleichwertig gut, versteht sich. Inzwischen ist klar, dass dies nicht mehr als ein frommer Wunsch war. Auch diese Erkenntnis dürfte ein wesentlicher Grund für die Absetzung von Sportchef Thomas Meggle gewesen sein. Von den vermeintlich gestandenen Neuzugängen sind Defensivakteur Christopher Avevor und Stürmer Marvin Ducksch bisher den Nachweis schuldig geblieben, zweitligatauglich zu sein. Gleiches gilt für den hochgelobten Leihstürmer Cenk Sahin, dessen angeblicher Marktwert von vier Millionen Euro in einem geradezu grotesken Missverhältnis zu seinen bisher gezeigten Leistungen steht.

So regiert bei St. Pauli vor den letzten fünf Spielen bis zur Winterpause vor allem das Prinzip Hoffnung. „Wir wollen sehen, dass wir jetzt in der Länderspielpause zwei, drei, vier Spieler zurückbekommen“, sagt Lienen. Vor allem Innenverteidiger Philipp Ziereis und Stürmer Aziz Bouhaddouz werden schmerzlich vermisst. Auch Offensivspieler Ryo Miyaichi sollte bis zum nächsten Heimspiel gegen Fortuna Düsseldorf am 20. November seine Gehirnerschütterung richtig auskuriert haben.

„Wir dürfen nicht aufgeben. Die Situation ist schwer, aber sie ist dazu da, dass wir sie lösen. Und wir arbeiten an Lösungen. Es nützt nichts, jetzt herumzuweinen“, sagte Lienen. Eine dieser Lösungen muss es sein, in der Winterpause gestandene Spieler zu verpflichten, die die körperliche und mentale Stabilität für den Abstiegskampf besitzen. Einige der aktuellen Akteure sind für diese Herausforderung offenkundig kaum geeignet – auch weil sie, wie etwa Sahin, in dem Glauben geholt wurden, die Mannschaft könne künftig einen technisch feinen Fußball zelebrieren. Nur gerade das ist in den kommenden Monaten überhaupt nicht gefragt.