Lennart Westphal. Jubiläum der Weiß-Braunen Kaffeetrinker: Die trockenen Alkoholiker zeigen, dass ein Leben auch ohne Bier und Schnaps „geil“ sein kann

9. Mai 2010, 34. Spieltag, kurz vor 17 Uhr. Der FC St. Pauli ist zurück in der Bundesliga! Die Stimmung im Millerntorstadion ist auf dem Siedepunkt. Die Mannschaft um Kapitän Fabio Morena tanzt auf dem Rasen Polonaise, und Trainer Holger Stanislawski geht nach der obligatorischen Bierdusche regelrecht zu Boden. Einige Hundert Meter weiter wird die Reeperbahn bereits für die anschließenden Feierlichkeiten gesperrt. Zehntausende werden das Team der Kiezkicker dort wenige Stunden später hochleben lassen.

Die drei langjährigen Dauerkarten-Inhaber Michael Krause, Wolfgang Strippgen und Stefan Geisner bekommen davon nicht mehr viel mit. Sie haben das Stadion bereits zehn Minuten nach dem Abpfiff verlassen und sind auf dem Weg nach Hause – nüchtern. Und das aus gutem Grund: Die drei sind trockene Alkoholiker. Seit zweieinhalb, zehn beziehungsweise eineinhalb Jahren haben sie zu diesem Zeitpunkt keinen Tropfen mehr getrunken.

„Ich bin damals aus Selbstschutz relativ schnell verschwunden. Es war das einzige Mal, seitdem ich trocken bin, dass ich mir gedacht habe, dass das Bier in der Hand irgendwie fehlt. Der Aufstieg ausgerechnet im Jahr des 100-jährigen Vereinsjubiläums, dazu super Wetter – da hätte es gut gepasst“, so Krause. Strippgen und Geisner nicken zustimmend und ordern bei der Bedienung zwei Kaffee und einen Espresso.

Im Clubheim des FC St. Pauli direkt unter der Südtribüne lassen sie die letzten Jahre Revue passieren. Auf dem Tisch haben sie gut lesbar einen Aufsteller platziert. „Weiß-Braune Kaffeetrinker – garantiert komafrei“ steht darauf geschrieben. Es ist der Name des besonderen Fanclubs, in dem sie Mitglied sind. Ein Fanclub, der nach eigenen Angaben der wohl einzige alkoholfreie überhaupt ist und in diesem Oktober 20. Geburtstag feiert.

1996 von zwei ehemals Alkoholkranken, die heute anonym bleiben möchten, gegründet, um bei Heimspielen der Kiezkicker – wegen eines möglichen Rückfalls – gegenseitig aufeinander aufpassen zu können, bietet dieser inzwischen einen Anlaufpunkt für viele Suchtkranke. Am jeweils ersten Donnerstag eines Monats findet im „Fanladen“ der „Weiß-Braune Kaffeeklatsch“ statt. Ein offenes Treffen, wo sich Betroffene, Interessierte, Aussteigewillige oder Angehörige zum Thema austauschen können. Zudem besucht der Fanclub regelmäßig die Suchtstationen von Krankenhäusern, um Patienten Möglichkeiten zur Beschäftigung nach der Therapie aufzuzeigen.

„Das ist ein Punkt, an den die wenigsten denken. Nach einer erfolgreichen Entgiftung geht es immer auch darum, die Zeit, die bisher zum Beispiel in Kneipen verbracht wurde, sinnvoll zu nutzen“, so Krause. Der 56-jährige Messebauer hatte während seines eigenen Entzugs 2007 das Glück, dass sein Chef ihn für die Therapie frei- und anschließend wieder einstellte. So viel Verständnis ist auch heute noch nicht selbstverständlich. Geisner ist etwa, auch infolge psychischer Probleme, inzwischen Frührentner bei voller Erwerbsminderung – mit 51 Jahren. Und doch wirkt er zufrieden, sogar glücklich. Vor allem aber sei der Rockmusik-Fan, der entsprechende Festivals inzwischen meidet, „stolz“ auf das, was er und die anderen geschafft haben.

Ein Leben ohne Alkohol.

Dass das vor allem für einen Abhängigen alles andere als einfach ist, zeigt die Geschichte von Wolfgang Strippgen. Seit 2000 ist der ehemalige Hausverwalter inzwischen trocken. Der Weg dahin war ein steiniger. „Wenn ich mir morgens vor der Arbeit am Kiosk Zigaretten geholt habe, habe ich meist auch noch zwei große Dosen Bier mitgenommen“, berichtet der 70-Jährige. Den ersten halben Liter hatte er bereits ausgetrunken, bevor er am Schreibtisch saß. Der zweite folgte noch vor der Mittagspause. „Zehn Bier und ein paar Schnaps am Tag waren irgendwann überhaupt kein Problem mehr. Mein Körper brauchte das“, so Strippgen. Ausfallerscheinungen habe er aber keine gehabt: „Auf Außenstehende wirkte ich komplett nüchtern. Niemand ahnte etwas.“

Eines Morgens hatte er sich dann fest vorgenommen, mit dem Trinken aufzuhören, ohne fremde Hilfe. Das gelang eine knappe Stunde, dann begann er zu zittern. Es folgten Schweißausbrüche, Entzugserscheinungen. „Ich saß da wie ein Häufchen Elend. Es ging einfach nicht“, erinnert sich Strippgen. Er rief sich schließlich einen Krankenwagen, der ihn in die Station der Suchtmedizin im UKE brachte. 1,6 Promille und ein Blutdruck von 200 wurden dort bei ihm gemessen. Sein Körper stand nach dem jahrelangen Raubbau kurz vor dem Kollaps. Eine Situation, die auch Krause nur zu gut kennt: „Wenn ich weiter gesoffen hätte, wäre ich gestorben“, sagt er. Wieder nickt Geisner zustimmend.

Geht es um ihre Vergangenheit als Trinker, sind die Weiß-Braunen Kaffeetrinker schonungslos offen. Sie wollen wachrütteln, zeigen, dass sich auch ohne Alkohol „ein geiles Leben“ leben lässt, wie Krause es ausdrückt, um nachdenklich zu ergänzen: „St. Paulis sportliche Situation wäre eigentlich ein Grund für einen Rückfall.“ Kurz blicken sich die drei daraufhin an, dann lachen sie laut. „Natürlich nur ein Spaß“, schmunzelt er und nippt an seinem Kaffee. Schließlich sind sie „garantiert komafrei“.

Kontaktmöglichkeiten: Via „facebook.com/weissbrauneKaffeetrinker“ oder telefonisch bei Wolfgang Strippgen: 0171 4048443.