Hamburg. Nach dem schlechtesten Ligastart der HSV-Geschichte knöpft sich die Clubführung das Team vor. Doch auch die Bosse stehen in der Kritik

Am Sonntagmorgen fiel die Entscheidung. Sie wollen es noch einmal versuchen. Zumindest noch einmal. Auch wenn es ihnen schwerfällt. Oliver Thier und seine Freundin Barbara Spieß werden ihre Dauerkarten behalten. Sie wollen weiterhin zum HSV gehen. Am Freitagabend um kurz vor Mitternacht hörte sich das noch anders an. Thier und Spieß saßen mit drei Freunden in einer Kneipe im Schanzenviertel. „Ich kann einfach nicht mehr“, sagte der HSV-Fan kurz nach dem desaströsen 0:3 gegen Eintracht Frankfurt.

Mindestens zwölf Spiele muss er sich in dieser Saison im Volksparkstadion angucken, damit er auch künftig Anspruch auf eine Dauerkarte hat. So besagen es die HSV-Regularien seit dieser Saison. „Das schaffe ich nicht. Ich ertrage das nicht mehr“, sagte Thier in der Nacht zu Sonnabend. Sein Entschluss, die Dauerkarten nach zehn Jahren zu verschenken, stand fest. Am Sonntag, zwei Nächte und einige Diskussionen mit seiner Freundin später, folgte die Kehrtwende. „Der HSV ist eben doch eine Herzenssache“, sagte Thier, der das Stadion am Freitag in der 65. Minute verlassen hatte. So früh wie noch nie. Zusammen mit Tausenden anderen Zuschauern. Die Fans hielten ihren HSV nicht mehr aus.

Dietmar Beiersdorfer wurde am Freitag die Frage gestellt, ob er den HSV schon jemals so schlecht erlebt habe. Die Antwort des Clubchefs: „Ja.“ Was hätte Beiersdorfer auch anderes antworten sollen. Ein Nein wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass er den HSV an den absoluten Tiefpunkt geführt habe. Beiersdorfer musste aber eigentlich auch nichts sagen. Jeder Anwesende hatte sich selbst davon überzeugen können, dass der Auftritt des HSV den Tabellen- und Punktestand widerspiegelte: so schlecht wie nie. Nur zwei Punkte und zwei geschossene Tore in den ersten acht Spielen – das ist einmalig in der 53-jährigen Bundesligageschichte des HSV.

Es war ein Spiel, das in dieser Art und Weise in der Bundesliga in der Regel eine gängige Konsequenz nach sich zieht. Einen Trainerwechsel. Das Pro­blem: Der HSV hat erst vor vier Wochen seinen Trainer gewechselt. Die Erkenntnis nach dem Frankfurt-Debakel lag entsprechend darin, dass die sportliche Talfahrt weder an Ex-Trainer Bruno Labbadia noch an Neu-Trainer Markus Gisdol lag und liegt. Und so begann unmittelbar nach dem Spiel die große Suche nach dem Schuldigen der Misere.

Nachdem die Vereinsführung zuletzt Trainer Labbadia als Sündenbock ausgemacht hatte, richtet sich die Kritik der Bosse nun an die Mannschaft. Vorstandschef Beiersdorfer war der Erste, der seinen Spielern eine fehlende Haltung vorwarf. „Die Mannschaft ist gefordert, sich anders zu zeigen und andere Spuren zu hinterlassen. Wir müssen den Finger in die Wunde legen, das tut richtig weh“, sagte Beiersdorfer und kündigte ein klärendes Gespräch an.

Schon am Sonnabendvormittag versammelte er die Spieler und Trainer Gisdol in der Kabine. Das Gespräch führte allerdings nicht Beiersdorfer, sondern Gisdol. Und von einem Gespräch konnte auch keine Rede sein. „Das war eine Ansage, kein Austausch. Sachlich und sehr direkt“, sagte Gisdol anschließend. 30 Minuten dauerte die Ansprache. Der Trainer gestand ein, dass ihm der sachliche Ton nicht leicht gefallen sei. „Ich bin auch ein emotionaler Mensch.“ Gisdol gab zu, dass ihn der Zustand der Mannschaft erschreckt habe. „Der Auftritt war so nicht zu erwarten. Die Spieler sind jetzt gefragt. Sie haben eine große Eigenverantwortung, der sie gerecht werden müssen.“

Doch damit nicht genug. Nach Beiersdorfer und Gisdol meldete sich am Sonnabend überraschend auch Aufsichtsratschef Karl Gernandt mit einem eigens vom HSV geführten Wut-Interview zu Wort. Auch Gernandt knöpfte sich darin die Mannschaft vor. „Ich lasse keine Ausreden und Alibis für so eine Minusleistung gelten“, polterte Gernandt. „Wer für den HSV aufläuft, der muss sich anders präsentieren. Wer jetzt sein Verhalten nicht komplett in den Dienst unseres HSV stellt, der spielt leichtfertig mit den Werten unseres HSV. Und das werden weder der Vorstand noch der Aufsichtsrat zulassen.“

Alles also auf die Mannschaft. Ein Wort der Selbstkritik in der HSV-Führung, die diesen Kader zusammengestellt hat? Fehlanzeige. Das plötzliche Gepoltere durch Gernandt, der im vergangenen halben Jahr öffentlich lediglich durch ein Doppelinterview im Supporters-Magazin auffiel, verdeutlicht vielmehr die Führungskrise beim HSV. Sowohl auf dem Platz als auch auf den Plätzen der Verantwortlichen fällt der Club durch eine schwache Führung auf. Mehr als ein Jahr konnten sich die Bosse hinter dem omnipräsenten Labbadia verstecken. Mit dessen Entlassung hat der HSV nach außen sein Gesicht verloren. Beiersdorfer ist nun bemüht, sich öffentlich häufiger zu stellen. Doch das macht die Situation nicht besser.

Kapitän Djourou kritisiert die vielen Trainerwechsel

Auch innerhalb der Mannschaft ist der Zustand des Clubs mittlerweile ein Thema. Der derzeit verletzte HSV-Kapitän Johan Djourou, der am Wochenende an seinem Comeback für das Dortmund-Spiel in zwei Wochen arbeitete, macht sich Gedanken. „In diesem Verein passieren viele Dinge. Du musst auch mal analysieren, was läuft gut und was nicht? Warum wechseln wir so viele Trainer? Das ist auch eine Frage, die wir uns stellen müssen“, sagte Djourou.

Der Kapitän nimmt auch seine Mitspieler in die Pflicht. So hatte es am Freitag bereits Torhüter René Adler getan, als er in einer Wutrede („Das kotzt mich an. Wir lassen uns abschlachten“) eine andere Einstellung der Mannschaft einforderte. Aber die alleinige Schuld? Die wollen Adler und Djourou dann doch nicht auf sich nehmen. Immer deutlicher mehren sich dagegen die Kritiker, die Clubchef Beiersdorfer für den Absturz und eine verfehlte Kaderplanung verantwortlich machen. Chefkon­trolleur Gernandt nahm dazu Stellung. „Das Team wurde im Sommer verstärkt, da waren sich alle einig. Und jetzt sind es genau diese Spieler unseres Kaders, die dafür sorgen müssen, dass hier schnellstmöglich die sportliche Wende herbeigeführt wird.“ Zusammengefasst: Die Mannschaft sei schuld.

Bei der Schuldfrage stellt Gernandt die Charakterfrage. Aber wer stellt beim HSV eigentlich die Führungsfrage? Als kritisches Kontrollinstrument ist der Aufsichtsrat in den vergangenen zwei Jahren nicht aufgefallen. Nun sollen also die Spieler schuld sein. Der Schwarze Peter wird fleißig herumgereicht.

Und was denken eigentlich die Fans? Oliver Thier muss lange überlegen. „Es gibt einfach so viele Probleme. Und das schon seit Jahren“, sagt der Anhänger aus Barmbek. Schlechte HSV-Spiele hat er zwar schon viele erlebt. Eine derartige Massenflucht wie am Freitag, als er sich in der 70. Minute beim Bus-Shuttle anstellen musste, um nach Hause zu kommen, war aber auch für ihn neu. „Ich werde wiederkommen“, sagte Thier am Sonntag, „die Hoffnung habe ich aber aufgegeben.“