Hamburg. Fehler, Formtiefs und mangelnde Führungsstärke sind entscheidende Gründe für die Krise – und nicht nur Pech

Am Morgen nach der 1:2-Heimniederlage gegen Aufsteiger Erzgebirge Aue machte Cheftrainer Ewald Lienen eine ganz neue Erfahrung, seit er am 16. Dezember 2014 das Amt beim FC St. Pauli angetreten hatte. Auf dem Parkplatz vor dem Trainingszen­trum hatte sich an diesem trüben Sonnabend ein Kamerateam von Sky Sport News HD positioniert, um zu filmen, wie Lienen mit seinem Wagen vorfährt. Es hätte ja, so das Kalkül der TV-Reporter, das letzte Mal gewesen sein können.

„Wenn die Jungs da sind, weiß man, was die Stunde geschlagen hat“, sagte Lienen später und grinste dabei schelmisch. Trotz der sportlich bedrohlichen Situation – nach neun Spieltagen Platz 18 mit nur fünf Punkten – gibt es beim FC St. Pauli aktuell keine Tendenz, eine schnelle Ablösung Lienens zu betreiben. Und so hat der 62-Jährige eben auch seinen Humor noch nicht verloren.

Am Sonnabend muss St. Pauli beim SV Sandhausen antreten

Von diesem Montag an wird Lienen also seine Mannschaft auf das zehnte Punktspiel dieser Saison vorbereiten, auf das Auswärtsmatch beim SV Sandhausen am Sonnabend (13 Uhr). Dabei hat der Trainer an den entscheidenden Themen zu arbeiten, die bisher den Erfolg des eigenen Teams verhindert haben.

Sportchef Thomas Meggle stellte am Sonnabend bereits klar, worauf man sich jetzt zu konzentrieren habe. „Wir sollten den Fokus auf die Themen legen, die wir beeinflussen können“, sagte er. Meggle dürfte damit auf das wiederholte Hadern über falsche Schiedsrichterentscheidungen und Klagen über Verletzungen angespielt haben. Es ziehe sich zwar durch die Saison, so Megg­le, dass dem Team auch diese Dinge häufiger als zuvor widerfahren, aber es gebe im Gesamtbild eben auch viele Mosaiksteine, die man selbst verändern könne.

Dass er damit richtig liegt, zeigt die folgende Übersicht über die gefährlichen Brennpunkte, die es derzeit im Team des FC St. Pauli gibt und die dringend behoben werden müssen, um die sportliche Wende zu schaffen.

Individuelle Fehler: Bei der 1:2-Niederlage am Freitagabend gegen Aue ermöglichten die Patzer von Daniel Buballa auf der linken Abwehrseite und von Innenverteidiger-Notlösung Christopher Avevor den Ausgleich zum 1:1, der in eine Phase fiel, als St. Pauli das Spiel in den Griff zu bekommen haben schien. In den Spielen zuvor hatten auch schon die als zuverlässig geltenden Marc Hornschuh, Sören Gonther und Lasse Sobiech durch krasse Fehler entscheidende Gegentore ermöglicht. „Es zieht sich durch die Saison, dass jemand einen großen Bock macht und wir prompt einen Gegentor bekommen. Damit bauen wir immer den Gegner auf“, sagt Trainer Lienen dazu.

Formtiefs einzelner Spieler: Besonders krass ist der Leistungsabfall im Vergleich zur vergangenen Saison bei Linksverteidiger Buballa. Aber auch Spieler wie Kyoungrok Choi und Waldemar Sobota bleiben insgesamt bisher weit unter ihren Möglichkeiten, spielen aber regelmäßig, weil die Alternativen entweder verletzt oder körperlich noch nicht in der Verfassung sind, um für 90 Minuten infrage zu kommen.

Mangelnde Führungsstärke: Wenn wie gegen Aue die Kapitäne Gonther und Sobiech ausfallen und der erfahrene Bernd Nehrig früh ausgewechselt werden muss, fehlt es auf dem Platz an Spielern, die Verantwortung übernehmen und Mitspieler dirigieren. Auch deshalb kam es gegen Aue vor dem entscheidenden Gegentor in der Schlussminute zu einer falschen Zuordnung des Gegenspielers für den Torschützen Steve Breitkreuz. „Es war das zweite Mal hintereinander, dass wir eine Standardsituation nicht verteidigen, weil wir nicht erkennen, was zu tun ist. Und das, obwohl es klar besprochen und angesagt war“, kommentierte Lienen die Szene.

Übermut und Leichtsinn: Gegen Aue stand dafür der eingewechselte Cenk Sahin als Negativbeispiel, der immer wieder glaubte, sich allein gegen mehrere Mitspieler durchsetzen zu können. „Es geht nicht, dass er zehnmal versucht zu dribbeln, dabei zehnmal den Ball verliert und jedes Mal einen Konter läuft. Dafür haben wir ihn nicht eingewechselt“, sagte Lienen über den Türken, der vor fünf Wochen gegen Bielefeld den Treffer zum bisher einzigen Sieg geschossen hatte. Aber auch Jeremy Dudziak neigt zu riskanten Kunststückchen mit dem Ball, was in der aktuellen Lage völlig unangebracht ist.

Taktische Ausrichtung: Hatte Lienen seinem Team nach der Amtsübernahme noch den klaren Kurs verordnet, vor allem für eine defensive Stabilität zu sorgen, was auch in der erfolgreichen vergangenen Saison noch fruchtete, sollte jetzt die Qualität entwickelt werden, auch einen tief stehenden Gegner beherrschen und mit Tempo ausspielen zu können. Auf diesem Weg aber ist das Team bisher kaum vorangekommen, hat aber seine defensive Qualität eingebüßt, wie die bereits 15 Gegentore zeigen. Vor einem Jahr waren es nach neun Spielen erst vier Gegentreffer – bei 18 Punkten.

Aufstellungsfehler: Neben von den Umstellungen wegen zahlreicher Verletzungen traf Trainer Lienen auch unerzwungene Startelf-Entscheidungen, die nicht immer glücklich waren. Gegen Aue schwächte er etwa Leistungsträger Christopher Buchtmann, indem er ihn auf die linke Seite stellte. Immerhin korrigierte er dies noch in der ersten Halbzeit. Aber auch der freiwillige Verzicht auf Bouhaddouz und Hedenstad, die während der Länderspielwoche kaum bzw. gar nicht für ihr Nationalteam zum Einsatz gekommen waren, war wenig plausibel. Dafür hatte er beim 0:1 in Dresden auf den noch nicht wieder gesunden Philipp Ziereis gesetzt.