Hamburg. Der neue Trainer will in Hamburg eine neue Philosophie entwickeln. Das Problem: Er hat keine Zeit

Markus Gisdol dürfte sich gefühlt haben wie auf einer kleinen Zeitreise. Aus seinem Familienort Bad Überkingen bei Geislingen in Baden-Württemberg, wo er das freie Wochenende verbracht hatte, machte sich der Trainer am Sonntag auf den Weg nach Hamburg. Es war der gleiche Weg, den Gisdol vor exakt zwei Wochen erstmals auf sich genommen hatte, um seine Mission beim HSV zu beginnen. Zeit also für Gisdol, seine ersten zwei Wochen in Hamburg ein wenig zu reflektieren. Zwei Wochen, in denen der 47-Jährige insbesondere auf eine Sache verzichten musste: Zeit.

Und doch war die kurze Zeit für Gisdol lang genug, um der Mannschaft des HSV seine grundsätzlichen Vorstellungen vom Fußball zu vermitteln. „Ein neuer Trainer kommt immer mit einer neuen Philosophie“, sagt Kapitän Johan Djourou, der an diesem Montag um 10 Uhr nach einer Muskelverletzung wieder mit der Mannschaft trainieren will. Doch wie lange dauert es, bis die Mannschaft die Philosophie eines neuen Trainers verinnerlicht? „Die Umstellung geht schnell“, sagt Djourou, „wir müssen sie jetzt nur auch schnell umsetzen.“

Wie Gisdol sich den Fußball beim HSV vorstellt, wurde in den ersten zwei Wochen schnell deutlich. Obwohl Djourou nur die ersten Einheiten unter dem neuen Trainer mitmachen konnte, weiß der Schweizer, welche Philosophie Gisdol verfolgt. „Wir wollen Pressing spielen und Bälle erobern in der gefährlichen Zone. Das passt gut zu unserer Mannschaft“, sagt Djourou. Beobachten konnte man das Gisdol-System bereits in Ansätzen bei der 0:2-Niederlage in Berlin und in der ersten Hälfte des Testspiels beim FC Magdeburg (2:1). In beiden Spielen offenbarte der HSV allerdings auch große Probleme in der Defensive. Die B-Elf des Drittligisten kam in den ersten 45 Minuten, als die Hamburger ein offensives 4-3-3-System spielten, mehrfach in Bedrängnis. „Wenn wir so spielen, müssen wir viel präventiv denken und viel zusammen kommunizieren“, sagt Djourou über die Herausforderungen im Defensivverbund.

Gisdol weiß, dass er sein bevorzugtes Offensivsystem beim HSV nicht bedingungslos durchziehen kann. Am kommenden Sonnabend im Auswärtsspiel beim Champions-League-Teilnehmer Borussia Mönchengladbach trifft der HSV auf eine Mannschaft, die in Heimspielen ebenfalls auf konsequenten Angriffsfußball setzt. „Wir können nicht alles von schwarz auf weiß drehen“, sagt Gisdol. „Das wird nicht funktionieren. Wir müssen ein paar Kompromisse machen.“

Keine Kompromisse macht Gisdol in seiner offensiven Grundausrichtung. Dafür hat ihn der HSV verpflichtet. „Das offensive Spiel ist ein Handwerk von Herrn Gisdol, das bringt uns weiter“, sagt Torhüter Christian Mathenia, der in Magdeburg spielen durfte. Den größten Unterschied zu Vorgänger Bruno Labbadia macht Mathenia in der Beinarbeit aus. „Gisdols System ist sehr laufintensiv“, sagt der Torhüter.

In Zahlen konnte man diesen Unterschied bereits in Berlin belegen. Der HSV lief mit 113,9 Kilometern mehr als in jedem Spiel der bisherigen Saison und erstmals auch deutlich mehr als der Gegner. „Es ist offensichtlich, dass wir nach Ballverlusten den Ball so schnell wie möglich zurückerobern wollen“, sagt Mathenia über die Gründe der gestiegenen Laufleistung.

In den ersten beiden Wochen veränderte Gisdol zudem sowohl die Inhalte als auch die Intensität des Trainings. Während Labbadia selten weniger als 90 Minuten trainieren ließ, sind die Einheiten unter Gisdol deutlich kürzer. „Training heute ist etwas kürzer, aber dafür sehr intensiv“, sagt Gisdols langjähriger Mentor Helmut Groß, heute sportlicher Berater von Ralf Rangnick bei RB Leipzig.

Groß hält nicht viel von gleichförmigen Einheiten, die unter Labbadia zu beobachten waren. „Training muss variantenreich sein. Das Motto heißt: wiederholen ohne zu wiederholen. Jede technische Übung mit einer taktischen Komponente wird nie exakt wiederholt, sondern durch die komplexen Einflüsse im Fußball zwangsläufig etwas verändert“, sagt Groß. Gisdol orientiert sich in seiner Methodik an BVB-Trainer Thomas Tuchel, der in Spielformen gerne experimentiert, indem er etwa die Ecken der Felder abschneidet, um den Raum zu verkleinern. Ähnliche Übungen konnte man unter Gisdol bereits beobachten. „Man merkt in jeder Einheit, dass uns das Training Spaß macht“, sagt Mathenia.

Die entscheidende Frage wird nun sein, wie schnell sich die Veränderungen in Training und Taktik auch in Tore und damit auf den sportlichen Erfolg auswirken. Angesichts des Tabellenstands – der HSV ist mit nur einem Punkt aus fünf Spielen Letzter – hat Gisdol für die ausgiebige Entwicklung seiner Fußballphilosophie nur bedingt Zeit. Fragt man den Trainer, wie lange es dauert, bis das Pressing auch Punkte produziert, erhält man eine klare Antwort: nur eine Frage der Zeit.

Ex-HSV-Trainer Armin Veh hat Clubchef Dietmar Beiersdorfer im Sport1-„Doppelpass“ kritisiert. „Es sieht so aus, als ob er keinen Plan hat“, sagte Veh.