Hamburg. Markus Gisdol will die Karten beim HSV neu mischen. Halilovic, über den Labbadia stolperte, dürfte erneut zum besonderen Fall werden

Der Ort, um über die Zukunft des HSV zu sprechen, trieft vor Vergangenheit. Ein gerahmtes Foto vom Moment, an dem Felix Magath 1983 in Athen zum 1:0-Siegtreffer gegen Juventus Turin trifft, hängt in der Mitte der HSV-Loge an der Wand, an der Seite sind die Helden von damals unter Glas zu bewundern. „Lasst uns über die Zukunft reden“, antwortet Markus Gisdol dennoch immer dann, wenn man den neuen HSV-Trainer nach den letzten Tagen oder den letzten Wochen fragt. Wie er diesen einst so großartigen HSV als Außenstehender zuletzt wahrgenommen habe? „Das ist doch völlig unwichtig“, sagt Gisdol an seinem zweiten HSV-Tag. Ihn interessiere nur das Heute und das Morgen, nicht das Gestern.

Doch bevor es tatsächlich ausschließlich um die Zukunft geht, ist ein gesonderter Abstecher in die Vergangenheit erlaubt. Muss in Anbetracht von Gisdols Geburtsort erlaubt sein. Geislingen, 27.000 Einwohner, schwäbische Provinz. Gisdols Heimat, einerseits. Und Stätte einer der peinlichsten HSV-Niederlagen der Geschichte, andererseits. „An das Spiel kann ich mich noch sehr gut erinnern“, sagt Gisdol. „Ich weiß sogar noch genau, wo ich damals stand: unterhalb von der Tribüne, hinter der Trainerbank.“ 0:2 verlor damals der gerade entthronte Europapokalsieger gegen den SC Geislingen, für den Gisdol seinerzeit als B-Jugendlicher auf Torejagd ging. „Das war natürlich eine Sensation.“

Ziemlich genau 32 Jahre ist diese Sensation nun her. Doch das Vergangene ist vergangen. Und zurück in der Zukunft will Hamburgs neuer Trainer keine Zweifel aufkommen lassen, dass er sich im Hier und Jetzt einen frischen Neustart für den bislang sieglosen HSV wünscht. „Jeder hat bei mir eine neue Chance. Jeder kann sich neu positionieren, jeder kann sich neu in den Vordergrund spielen“, sagt Gisdol, der die Karten im Kader neu mischen will. „Wir haben ein weißes Blatt Papier vor uns“, sagt der 47-Jährige, „und dieses weiße Blatt beschreiben wir neu.“

Es sind Sätze, die Gisdol in ähnlicher Form auch jedem einzelnen Spieler sagen will. Am Montag habe er die Mannschaft noch ein wenig in Ruhe gelassen, sagt er, aber von Dienstag an wolle er nach und nach mit allen Profis Einzelgespräche führen. Dabei dürften vor allem diejenigen gut zuhören, die unter Vorgänger Bruno Labbadia zuletzt nicht die Rolle spielten, die sie sich gewünscht hatten: Innenverteidiger Cléber, Rechtsverteidiger Dennis Diekmeier, Neuzugang Luca Waldschmidt, Stürmer Pierre-Michel Lasogga – und selbstverständlich auch Mittelfeldtalent Alen Halilovic.

Besonders auf Gisdols Umgang mit dem Kroaten, den Labbadia zuletzt nicht einmal mehr in den Kader berufen hatte, darf man gespannt sein. Tatsächlich gab es keinen anderen HSV-Profi, über den in den vergangenen Wochen derart kontrovers diskutiert wurde. Soll der Neuzugang vom FC Barcelona zen­tral spielen? Oder lieber rechts außen? Wollte ihn tatsächlich nur Clubchef Dietmar Beiersdorfer verpflichten? Und stolperte Gisdols Vorgänger wirklich über den „Kroaten-Messi“, dessen Vater in der Woche der Entlassung der „Sportbild“ im Interview gesagt hatte: „Wir wurden vor Labbadia gewarnt“?

„Ich mache mir erst ein Bild von Spielern, wenn ich sie selbst trainiere“, antwortet Gisdol auf die Frage nach Halilovic und umkurvt die Klippe geschickt: „Ich versuche, meine Spieler frei von negativen oder positiven Vorurteilen zu betrachten. Bei mir fängt jeder bei null an.“ Aus diesem Grund habe er auch bewusst Vorgänger Labbadia noch nicht angerufen. „Ich werde das noch tun“, sagt er. „Aber erst dann, wenn ich mir selbst von allem ein Bild gemacht habe.“

Das erste Vieraugengespräch führte Gisdol am Dienstag allerdings nicht mit einem Spieler, sondern mit Sportdirektor Bernhard Peters, den der Fußballlehrer noch aus gemeinsamen Zeiten aus Hoffenheim kennt. Nach dem Mittagessen (Rouladen, Kroketten und Rotkohl) trafen sich die beiden im Stadionrestaurant „Die Raute“. „Ich schätze Bernhard Peters’ Fachwissen sehr, das muss man gezielt einsetzen“, sagt Gisdol, der sich allerdings ähnlich wie Labbadia und anders als Vorvorgänger Joe Zinnbauer nicht von Peters in der Kabine filmen lassen will. „Diese Geschichte wird sich bei mir nicht wiederholen. Jeder muss selbst entscheiden, inwiefern man sich coachen lässt.“

Wie er sich das Coaching seiner Mannschaft vorstellt, verdeutlichte der zweifache Familienvater mit einem zweiten Schwenk in die Vergangenheit – aber der unmittelbaren Vergangenheit. So berichtet Gisdol ausführlich von einem kürzlichen Besuch bei Atlético Madrid mit Startrainer Diego Simeone. „Man spürt den Charakter dieses Clubs bereits, wenn man das Gelände betritt. Die Mentalität, die dieser Club und diese Mannschaft ausstrahlen, hat mich fasziniert“, schwärmt Gisdol. „Man hat das Gefühl, die Spieler sterben für ihren Club, für ihre Aufgabe. Sie hauen alles rein, deswegen bin ich fest der Überzeugung, dass jeder Mannschaft 30 Prozent Atlético guttun würde.“

Am Sonnabend (15.30 Uhr/Sky) in Berlin sollen es gegen die Hertha aber statt 30 gleich 100 Prozent sein. 100 Prozent HSV. Doch das ist selbstverständlich nur: Zukunftsmusik.