Hamburg. Weltmeister Jürgen Brähmer über die Probleme im deutschen Boxsystem – und wie er sie lösen würde

Einen umfassenderen Einblick ins deutsche Boxen, als Jürgen Brähmer ihn hat, kann es kaum geben. Der 37 Jahre alte Halbschwergewichts-Weltmeister aus Schwerin bereitet sich aktuell auf die Verteidigung seines WBA-Titels am 1. Oktober in Neubrandenburg gegen den Waliser Nathan Cleverly vor. Zudem ist er seit Jahresbeginn Trainer von Supermittelgewichtstalent Tyron Zeuge und hat am Olympiastützpunkt in Schwerin Einblick in die Arbeit mit Amateurboxern. Wenn einer wie er warnt, dass das deutsche Boxen auf dem Weg ist, den Anschluss komplett zu verlieren, sollte man das ernst nehmen.

Herr Brähmer, Sie stellen dem deutschen Boxen ein verheerendes Zeugnis aus. Was läuft Ihrer Meinung nach schief?

Jürgen Brähmer: Ich habe den Eindruck, dass uns die Professionalität komplett abhanden gekommen ist, weil es keine Bereitschaft gibt, sich an die neuen Erkenntnisse im Leistungssport anzupassen. Einige Trainer klammern sich viel zu sehr an alte Schemen aus Angst, zu viel ihrer Kompetenz einzubüßen. So beißen sie den Nachwuchs, der mit frischen Ideen kommen könnte, weg. Wir sind wirklich kurz davor, die Kurve nicht mehr zu kriegen.

Was genau kritisieren Sie? Wo liegen die größten Defizite?

Zunächst einmal in der generellen Trainingslehre. Die meisten Trainer denken, dass jedem Sportler das gleiche Trainingsprogramm hilft. Dabei wird ganz besonders der Bereich Regeneration außer Acht gelassen.

Die Erkenntnis, dass man seine Athleten individuell trainieren und die Kompetenzen auf verschiedene Schultern verteilen muss, ist doch aber nicht neu.

Die Einsicht gibt es vielleicht, aber sie wird nicht oder zu wenig umgesetzt, weil die Dino-Trainer fürchten, ihren Einfluss zu verlieren. Dabei kann ein Trainer gar nicht alles können, und es ist auch ein Trugschluss zu glauben, sich in allen Bereichen weiterbilden zu können, weil dann die Zeit für die eigentliche Arbeit fehlt. Man braucht einen Athletiktrainer, einen Taktiktrainer, einen Mentalcoach, einen Physiotherapeuten und einen, der alles organisiert. Dass es einen Cheftrainer für alles gibt, halte ich für Blödsinn.

Wer soll sich denn eine solche Armada leisten? Das ist doch kostenintensiv.

Natürlich kostet das Geld, aber das muss man investieren, wenn man zurück an die Spitze will. Ich halte es für alternativlos, wenn wir den Anschluss nicht verlieren wollen. Schauen Sie nach England. Dort war das Boxen vor einigen Jahren am Boden. Heute sind die Briten bei den Amateuren führend und haben 14 Profiweltmeister. Warum? Weil der Staat mit einer Lotterie vor den Olympischen Spielen 2012 viel Geld in die Förderung des Leistungssports gesteckt hat. Auch in Deutschland muss mehr investiert werden.

Die Briten haben das Boxen auch dadurch nach vorn gebracht, weil die Zusammenarbeit zwischen Amateuren und Profis funktioniert. Warum tut sich Deutschland damit so schwer?

Das frage ich mich auch, und es ärgert mich. Es wäre so wichtig, dass sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und darüber reden, was man gemeinsam erreichen möchte, um das Boxen auf allen Ebenen nach vorn zu bringen. Stattdessen werden die Gräben immer breiter und Streitigkeiten in der Öffentlichkeit ausgetragen.

Immerhin hat sich der Amateur-Weltverband Aiba vor den Rio-Spielen erstmals für Profis geöffnet und ihnen die Olympia-Teilnahme ermöglicht.

Aber mit welchem Ergebnis? Drei namenlose Profis haben teilgenommen! Warum zerstört man ein über Jahrzehnte mit der Trennung von Amateuren und Profis gut funktionierendes Wettkampfsystem?

Was würden Sie empfehlen?

Die Amateure sollen Amateure bleiben und sich auf ihr kurzrundiges System konzentrieren, und wer dann Profi werden will, der soll es werden dürfen, anstatt von der Aiba mit 60-seitigen Verträgen, die ich für rechtlich bedenklich halte, daran gehindert zu werden. Aber es braucht vor allem ein Umdenken in der Belastungssteuerung, damit die Jungs nicht nach wenigen Jahren verheizt sind. Ich sehe doch in Schwerin, wie viel Potenzial wir auch im deutschen Boxen haben. Aber wenn wir keinen durchdachten Aufbau leisten, werden wir dieses Potenzial nicht nutzen.

Was wollen Sie beitragen, um das deutsche Boxen in die richtigen Bahnen zu lenken?

Als Athlet kann ich nicht mehr viel verändern, dafür bin ich zu alt. Aber als Trainer oder Berater schon. Ich sehe mich in erster Linie als Bindeglied, würde gern dabei helfen, Amateure und Profis zueinanderzuführen und die Strukturen neu zu organisieren. Ich hoffe sehr, dass man sich entschließt, gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Der Bundestützpunkt in Schwerin ist auf einem guten Weg und wird auch vom Innenministerium unterstützt. Das muss aber auch auf Bundesebene passieren, damit wir den Sport wieder in die richtige Richtung bringen können. Daran würde ich gern mitarbeiten.