New York. Bei den US Open kämpft Angelique Kerber um ihren zweiten Grand-Slam-Titel

Angelique Kerber saß im Fitnessraum im zweiten Obergeschoss des Arthur-Ash-Stadions wie hypnotisiert vor dem Fernseher. Um 20.47 Uhr Ortszeit verfolgte sie mit ihren engsten Vertrauten, Trainer Torben Beltz und Physiotherapeutin ­Cathrin Junker, den Matchball des US-Open-Halbfinales zwischen Serena Williams und Karolina Pliskova. Williams servierte einen Doppelfehler und verabschiedete sich aus dem Turnier. „Team Kerber“ schwieg für ein paar Sekunden. „Okay, jetzt ist es passiert“, sagte die 28-Jährige in dem Moment, als in der Nacht zum Freitag klar war: Ab Montag wird sie die neue Nummer eins der Tennis-Weltrangliste sein.

Nichts kann Kerbers Entwicklung in den letzten zwölf Monaten so präzise beschreiben, wie das, was dann an diesem 8. September 2016 im New Yorker Stadtteil Queens passierte. Nachdem Kerber bereits wusste, dass sie den Tennis-Thron der großen Serena Williams erobert hatte, musste sie noch im zweiten Halbfinale des Tages gegen die Dänin Caroline Wozniacki antreten.

War sie im vergangenen Jahr beim WTA-Finale noch an der Aussicht zerbrochen, nur einen einzigen Satz statt eines ganzen Matches gewinnen zu müssen, um die Vorschlussrunde zu erreichen, drückte sie nun alle Emotionen weg. Das 6:4, 6:3 gegen Wozniacki, eine von Kerbers 21 Vorgängerinnen an der Spitze der Weltrangliste, war nie gefährdet. Und das hatte einen Grund: „Ich wollte nicht mit einer Niederlage die Nummer eins werden. Das hat mich umso mehr motiviert“, sagte Kerber.

Kerber wollte ihre Karriere wegen Erfolglosigkeit beenden

Die Wandlung der Angelique Kerber vom mental-wackligen und öffentlich-schüchternen jungen Mädchen zur neuen Spitzenkraft im internationalen Tennis manifestiert sich nicht nur auf dem Platz. Kerber ist gereift, körperlich topfit und psychisch so stabil wie die sturmerprobte neue Dachkonstruktion über dem Arthur-Ashe-Stadion.

Vor fünf Jahren noch stand die Linkshänderin aus Kiel kurz davor, alles hinzuschmeißen und ihre Karriere wegen Erfolglosigkeit zu beenden. Doch dann erreichte sie 2011 bei den US Open als Weltranglisten-92. das Halbfinale – und begann einen Triumphmarsch, der sie fünf Jahre später im New Yorker Spätsommer auf den Tennis-Gipfel führte. „Es fühlt sich unglaublich an, einfach großartig. Heute ist der Tag gekommen, von dem ich geträumt habe“, erzählte die Kielerin kurz vor Mitternacht in den Katakomben des größten Tennisstadions der Welt.

Auch lange nach ihrem Finaleinzug hatte Kerber noch nicht Feierabend. Jeder wollte ein Stück von ihr, immer wieder musste sie erzählen, wie es sich anfühlt, ab Montag die neue Nummer eins der Welt zu sein. Die Postfächer in ihrem Handy quollen über vor Nachrichten. „Ich weiß gar nicht, was ich damit machen soll“, sagte Kerber. Auch Boris Becker, 1991 die Nummer eins der Herren, gratulierte via Twitter: „Meine größte Wertschätzung ... aber Samstag wird auf Sieg gespielt!!!“

Ob sich unter all den Glückwünschen auch einer ihres Kindheitsidols Steffi Graf befand, konnte Kerber zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, doch sie ahnte: „Steffi ist bestimmt stolz auf mich.“ Immerhin steht sie 19 Jahre nach Graf als erst zweite Deutsche überhaupt an der Weltspitze.

20 Jahre nach dem letzten US-Open-Titel von Steffi Graf hat Angie Kerber nun außerdem noch die Chance, ein weiteres Mal in die riesigen Fußstapfen der „Gräfin“ zu treten. Am Sonnabend (22.00 Uhr MESZ/Eurosport) wartet im Finale eine Spielerin, der Kerber eigentlich dankbar sein müsste. Pliskova hatte die angeschlagene Williams überraschend mit 6:2, 7:6 (7:5) bezwungen und damit das Ende der 186 Wochen andauernden Regentschaft des US-Superstars besiegelt. Die vom Thron gepurzelte Tennis-Queen hatte nach ihrem Halbfinal-K.-o. wenig Lust auf das Frage-und-Antwort-Spiel der Journalisten. Über die neue Situation an der Spitze des Rankings wollte Williams kein Wort verlieren und sagte eisig: „Ich spreche nicht über die Nummer eins, danke.“

Nach sechs Spielen ohne Satzverlust, unzähligen Fragen nach der bevorstehenden Wachablösung und einer passenden Antwort ist Kerber bereit, ihr Werk im dritten Grand-Slam-Finale der Saison zu krönen. Zumal noch eine Rechnung mit Pliskova offen ist: Gegen die Tschechin hatte Kerber eine Woche vor den US Open im Finale von Cincinnati verloren und die erste Chance auf Platz eins der Weltrangliste verpasst. Nun bietet sich der mit 28 Jahren ältesten Nummer-eins-Debütantin die Chance zur Revanche. „Ich weiß, wie sie spielt, ich weiß, dass sie sehr gut aufschlägt. Ich glaube nicht, dass ich die Favoritin bin, ich mag das Wort nicht“, sagte Kerber gewohnt zurückhaltend, aber mit dem Ziel vor Augen, nach dem Triumph in Australien ihren zweiten Grand-Slam-Titel zu gewinnen: „Jede die im Finale steht, spielt gutes Tennis. Ich werde rausgehen und versuchen, meine Chance zur Revanche zu nutzen.“

Beltz führte Kerber in die Top Ten

Einen großen Anteil an dem Siegeszug von Kerber hat ihr Trainer Torben Beltz. Die beiden verstehen sich blind – kein Wunder, bereits als Juniorin hatte der Trainer aus Itzehoe Kerber auf der Profitour begleitet. „Torben weiß genau, wie ich ticke. Wir kennen uns schon so lange, er kann auch mit meinen Emotionen umgehen“, weiß die Norddeutsche mit polnischen Wurzeln zu schätzen. Trotzdem kam es 2014 zur zwischenzeitlichen Trennung, und Kerber reiste fortan mit ihrem neuen Trainer Benjamin Ebrahimzadeh um die Welt. „Wir wollten beide mal etwas anderes ausprobieren“, erzählte Beltz. Nach ihrer Niederlagenserie im Frühjahr 2015 trennte sich Kerber dann von Ebrahimzadeh und setzte passend zu ihrem Naturell auf Bewährtes – und kehrte zu Beltz zurück. „Er ist der positivste Mensch, den ich kenne“, sagt Kerber über den 39-Jährigen. Und sie kann auf ihn zählen. Auch in dem historischen Moment, als sie vor dem Fernseher im Fitnessraum des Arthur-Ashe-Stadions erfuhr, dass sie die neue Nummer eins der Welt wird.

Marvin Möller (17) vom Rahlstedter HTC verabschiedete sich als letzter Deutscher beim Juniorenturnier der US Open in der dritten Runde mit 2:6, 5:7 gegen den an eins gesetzten Stefanos Tsitsipas aus Griechenland.