Rio de Janeiro. Die nur 1,44 Meter kleine US-Amerikanerin turnte im Mehrkampffinale in einer eigenen Liga

Um die Überlegenheit von Simone Biles in der Welt des Kunstturnens zu beschreiben, muss man kein Experte sein. Wer diese 1,44 Meter große US-Amerikanerin einmal gesehen hat, der kommt aus dem Staunen nicht heraus. Da muss man nicht einen Tsukahara von einem Yurchenko unterscheiden können, das sieht jeder: Biles scheint von einem anderen Stern zu kommen, jedenfalls turnt sie in ihrer eigenen Welt. So klein und doch so groß.

Die 12.000 Zuschauer in der olympischen Turn-Arena lagen der Königin von Rio zu Füßen. Mucksmäuschenstill verfolgten sie ihre perfekten Übungen, hielten den Atem an, als der Teenager seine Akrobatik in Perfektion an den vier Geräten vorführte, und brach dann in ekstatischen Jubel aus, sobald Biles auch den Abgang so sicher stand, als ob sie von einem Magneten angezogen worden sei.

Biles könnte als erste Turnerin fünfmal Gold holen

Auch den Hallensprecher hatte Biles so in den Bann gezogen, dass er vor deren finalen Auftritt im Mehrkampf am Boden verkündete: „Gratulation an Alexandra Raisman zu Silber und an Alija Mustafina zu Bronze.” Biles hätte sich ja durchaus noch verletzten können, wie es hier in Rio leider so vielen schon ergangen ist. Aber der Turnfloh zündete zum Schluss noch einmal ein grandioses Feuerwerk am Boden ab. Wie ein Flummi tickte sie von einem atemberaubenden Element zum anderen.

Statt Gelenke scheint sie Federn in den Füßen zu haben. Mit 62,198 Punkten im Mehrkampf machte Biles ihren zweiten Erfolg bei den Sommerspielen in Rio perfekt und verwies ihre US-Teamkollegin Raisman (60,098) und die Russin Mustafina (58,665) wie vom Hallensprecher vorausgesagt auf die Silber- und Bronze-Plätze.

Biles könnte die erste Turnerin der Olympia-Geschichte werden, die fünf Goldmedaillen bei einer Auflage der Sommerspiele gewinnt. Bislang führen Larissa Latynina (Sowjetunion), Agnes Keleti (Ungarn/beide 1956), Vera Caslavska (Tschechien/1968) und Ecaterina Szabo (Rumänien/1984) mit je vier Goldmedaillen die Wertung an.

Die Geschichte der Simone Biles trifft genau den Geschmack der Amerikaner. Mit ihren einzigartigen Vorstellungen im Turnen fasziniert sie die optischen Wünsche der Zuschauer, mit ihrem Aufstieg von ganz unten nach ganz oben berührt sie die Gefühle. ­Biles wurde in Columbus, Ohio, geboren. Im Alter von zwei Jahren wurde sie ihrer von Drogen und Alkohol abhängigen Mutter Shannon weggenommen und in einem Heim untergebracht. Nach einem gescheiterten Versuch, Simone und ihre jüngere Schwester Adria in die Obhut ihrer Mutter zurückzugeben, nahm Ron Biles, der Großvater und dessen zweite Ehefrau Nellie die zwei Mädchen 2003 zu sich auf. Seit einiger Zeit hat Simone Biles wieder Kontakt zu ihrer biologischen Mutter, doch irgendwann hatte sie zu ihren Großeltern gesagt: „Ich möchte gern Mama und Papa zu euch sagen.”

Mit sechs Jahren begann Biles mit dem Turnen. Zeitweise ging sie auf die Turn-Akademie des rumänischen Ehepaars Martha und Bela Karoly. Sie formten Champions in den USA, wie sie es in Rumänien mit Nadia Comaneci, der bekanntesten Turnerin der Geschichte, getan hatten.

Ihr Trainingszentrum auf einer großen Ranch in Texas gilt als Goldschmiede. In einem gnadenlosen Ausscheidungsprozess suchen sie sich die besten US-Turnerinnen für Olympia heraus. Bela ist im Ruhestand, und Martha hört nach diesen Spielen auf. Vor zwei Jahren wollte Simone Biles sich doch lieber wieder von ihrer früheren Trainerin Aimee Boorman betreuen lassen. Heute ist Boorman quasi eine Angestellte der Familie, denn Ron Biles ist heute ein vermögender Mann und baute Simone ein eigenes Gym. Im November wurde das World Champions Centre nahe Houston eröffnet.

5000 Quadratmeter, mit allen Schikanen. Von außen erinnert es die vielen Neugierigen eher an eine Kirche als an eine Turnhalle. Der Aufwand hat sich gelohnt, wie nicht erst in Rio zu beobachten ist. 2012 durfte sie nicht starten, weil sie unter der Altersgrenze war. Seit 2013 dominiert sie die Turn-Welt: Zehn WM-Titel hat sie gewonnen, je drei im Mehrkampf und am Boden, je zwei am Balken und mit dem Team.

Ihre Trainerin Boorman verriet, dass Biles zwar sehr auf das Turnen fixiert sei. Aber manchmal habe sie auch andere Sachen im Kopf. Zum Beispiel Jungs. „Simone ist zu 85 Prozent ein toller Profi und zu 15 Prozent ein Teen­age Girl”, sagt sie im „New Yorker“. In den USA wird jede Kleinigkeit über ­Biles berichtet. Wie sie sich schminkt oder was sie isst, und, und, und. Von Sonntag bis Dienstag geht es aber in erster Linie ums Turnen. In den Gerätefinals winken Simone Biles weitere drei Goldmedaillen. Das wären insgesamt fünf: So klein und doch so groß.

Elisabeth Seitz (Stuttgart) belegte mit 56,366 Punkten Platz 17. Die deutsche Mehrkampf-Meisterin Sophie Scheder (Chemnitz) landete mit 53,907 Zählern auf dem 23. Rang. Das Duo besitzt am Sonntag noch eine Medaillenchance im Finale am Stufenbarren.