Rio de Janeiro. Internationales Komitee beschließt kollektive Sperre – neuer Skandal um Dopingkontrollen bei den Brasilianern – auch Kenia unter Verdacht

IOC-Präsident Thomas Bach drückte sich noch, doch die Behindertensportler greifen hart durch: Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) hat alle russischen Athleten wegen massiver Doping-Verstöße von den Paralympics in Rio (7. bis 19. September) ausgeschlossen. 271 qualifizierte Sportler müssen zu Hause bleiben. Sportminister Witali Mutko kündigte unmittelbar nach der Entscheidung den Gang vor den Internationalen Sportgerichtshof CAS an.

„Das russische Anti-Doping-System ist gebrochen und korrupt. Es entspricht nicht dem Welt-Anti-Doping-Code und nicht dem Anti-Doping-Code des Internationalen Paralympischen Komitees“, sagte IPC-Präsident Philip Craven am Sonntag in Rio: „Es werden keine russischen Athleten bei den Paralympics in Rio starten.“

Präsident Friedhelm Julius Beucher vom Deutschen Behindertensportverband lobte: „Das ist eine klare, mutige Entscheidung des IPC. Sie findet die ausdrückliche Zustimmung des DBS“, sagte er. „Null-Toleranz-Politik lässt keine Alternative und keine Ausflüchte zu. Flächendeckendes Doping erlaubt auch keine Unschuldsvermutung. Das IPC hat konsequent reagiert.“

Russlands Sportminister Mutko sprach dagegen von einer „unbegreiflichen Entscheidung, jenseits aller Vorstellungskraft“. Er verstehe nicht, sagte Mutko der Nachrichtenagentur Interfax, „auf welcher Basis diese Entscheidung gefallen ist“. Mutko sicherte dem Russischen Paralympischen Komitee „volle Unterstützung“ zu: „Wir gehen vor Gericht und werden für unsere Sportler kämpfen.“ Russlands Paralympics-Chef Wladimir Lukin meinte, das Urteil „riecht nach Politik“.

Das IPC reagierte mit der Sperre auf die Enthüllungen aus dem McLaren-Bericht. Der Report hatte ein vom Staat gelenktes Doping-System in der Zeit von 2011 bis 2015 auch im russischen Behindertensport belegt und wurde Mitte Juli veröffentlicht. „Das war einer der dunkelsten Tage in der Geschichte des Sports“, sagte Craven, der auch IOC-Mitglied ist.

Zunächst hatte Ermittler Richard McLaren dem IPC eine Liste mit Namen von 35 Behindertensportlern vorgelegt, deren Proben manipuliert waren. Im Gegenzug stellte das Komitee McLaren 19 Proben von den Paralympischen Winterspielen 2014 in Sotschi zur Verfügung, nachdem diese im Report als ebenfalls potenziell betroffen identifiziert worden waren.

Auch vom IOC und Bach hatte man nach den erschütternden Doping-Enthüllungen einen Totalausschluss der Russen für die Olympischen Spiele in Rio erwartet. Doch am Ende traf die IOC-Exekutive eine wachsweiche Entscheidung, schloss lediglich gut 100 Russen von den Rio-Spielen aus, obwohl das Land mit seinem Staatsdoping bei den Winterspielen in Sotschi das IOC dreist betrogen hat.

Nicht nur wegen der IPC-Entscheidung stand das erste Olympia-Wochenende in Rio ganz im Zeichen des Dopings. Nun steuerte auch der Gastgeber einen handfesten Skandal bei. Im Vorfeld der Spiele soll Brasilien bei „führenden Athleten“ keine Dopingtests mehr vorgenommen haben – und zwar auch auf Druck staatlicher Stellen.

Die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada bestätigte den Fall und sprach von „inakzeptablen“ Zuständen, der deutsche Doping-Experte Fritz Sörgel hält Staatsdoping wie in Russland für möglich. „Das ist ein Skandal. Es ist natürlich wieder mal kennzeichnend. Es zeigt, wie getrickst wird“, sagte Sörgel. „Nach den schlechten Erfahrungen mit Russland muss man fragen: Gibt es in Brasilien auch Staatsdoping? Oder es war eine Chance, sich über längere Zeit zu entdopen, um einen Skandal vor Olympia zu vermeiden“, sagte Sörgel. Zu einer Hängepartie geriet die Nominierung der russischen Mannschaft. Tagelang hatten Weltverbände, CAS-Experten und die IOC-Kommission geprüft, ob russische Athleten wie Schwimmstar Julia Jefimowa in Rio starten dürfen. Der CAS kippte die IOC-Regel, die früheren Dopingsündern wie Jefimowa den Rio-Auftritt verwehrte – und machte das Chaos perfekt.

Das IOC äußerte sich dazu nicht. Gleichzeitig tauchten plötzlich am Sonnabendabend auf Startlisten die Namen von Jefimowa, Natalia Lotsowa und Daria Ustinowa sowie von den Radrennfahrern Alexej Kurbatow und Olga Zabelinskaja auf. Demnach wuchs das russische Team auf 277 Athleten an.

Schwimm-Bundestrainer Henning Lambertz konnte die Entscheidung nicht nachvollziehen. „Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle Sportler, die sauber arbeiten“, sagte Lambertz über Jefimowa, die 2013 wegen Dopings 16 Monate gesperrt worden war.

Derweil wurde der Delegationsleiter der kenianischen Leichtathleten, Michael Rotich, wegen des Verdachts der Doping-Beihilfe von den Spielen in Rio abgezogen. In einem Beitrag der ARD-Dopingredaktion und der Zeitung „Sunday Times“ bot Rotich vor versteckter Kamera an, den Zeitpunkt von Kontrollen an betroffene Sportler weiterzugeben. Für die Vorwarnungen verlangte er einen Betrag von 15.000 Euro.

„Meiner Ansicht nach ist dies ausreichend, damit Kenia genauso untersucht wird wie Russland“, sagte der frühere Wada-Präsident Richard Pound der ARD. IOC-Sprecher Mark Adams hielt am Sonntag dagegen, dass „wohl noch niemand so oft getestet“ worden sei wie Kenias Leichtathleten in den letzten Monaten. Insgesamt seien seit Oktober 2015 848 Dopingproben entnommen worden.

Das Bild der Spiele trüben auch erste Dopingfälle. Vier positive Proben gab es kurz vor dem Auftakt, eine auffallend hohe Rate. Bei den letzten Sommerspielen in London wurden am Ende zwölf positive Fälle registriert. Womöglich behält der Mainzer Doping-Experte Perikles Simon Recht, der für Rio die „gedoptesten Olympischen Sommerspiele aller Zeiten“ prophezeite.

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