Rio de Janeiro. Der Hamburger Jacob Heidtmann schwimmt im Vorlauf deutschen Rekord, wird aber wegen einer falschen Beinbewegung disqualifiziert. Jetzt denkt er ans Aufhören

Was es für einen Athleten bedeutet, wenn der Lebenstraum buchstäblich im Wasser versinkt, ist für Normalsterbliche kaum zu ermessen. Einen Einblick in die Gefühlswelt eines Gescheiterten bekamen am Sonnabendmorgen im Schwimmstadion des Olympiaparks von Rio de Janeiro die Journalisten, die in der für die obligatorischen Nach-Rennen-Interviews eingerichteten Mixed Zone auf ihre Gesprächspartner warteten.

Ein Hüne in grün-gelber Badehose mit appliziertem Deutschland-Adler tapste dort über die hellen Fliesen. Er blickte weder nach links noch nach rechts, er schien nicht wahrzunehmen, dass hinter dem Absperrgitter Dutzende Menschen warteten, von denen einige mit ihm reden wollten. Tränen flossen ihm über sein Gesicht, er schluchzte hemmungslos. Jacob Heidtmann wirkte in diesem bitteren Moment in dem kargen Flur unterhalb der Haupttribüne, auf der die Fans tobten, viel kleiner als die 195 Zentimeter, die er an Körperlänge aufweist. Er wirkte wie einer, der zusammengeschrumpft ist, um sich zu verstecken vor der Welt, von der er nichts wissen wollte in diesem Moment.

Dabei wäre es tatsächlich mehr als unfair, das 21 Jahre alte Ausnahmetalent als gescheitert zu bezeichnen. Ja, Heidtmann war im vierten Vorlauf über 400 Meter Lagen ausgeschieden und musste damit befürchten, seine Olympiapremiere schon nach einem Rennen beenden zu müssen. Aber es war ja nicht so gewesen, dass er seine Leistung nicht gebracht hätte. Im Gegenteil, er war in 4:11,85 Minuten sogar deutschen Rekord geschwommen und hätte mit dieser Zeit als Fünfter das Finale erreicht. Am Sonnabendabend, als der Japaner Kosuke Hagino in 4:06,05 Minuten die Goldmedaille gewann, hätte die Zeit zum sechsten Rang gereicht.

Das Problem war, dass der Politikstudent aus Borstel-Hohenraden im Kreis Pinneberg disqualifiziert worden war. Ein unerlaubter zweifacher Delfinkick bei der Brustwende war ihm zum Verhängnis geworden. Kurz nach Renn­ende hatte der Deutsche Schwimmverband (DSV) noch einen Protest gegen die Entscheidung erwogen, diese Möglichkeit dann aber verworfen, wie Bundestrainer Henning Lambertz sagte: „Es gibt keine klaren Bilder, die die Entscheidung der Kampfrichter widerlegen könnten. Natürlich ist das sehr tragisch für Jacob, aber wir können nichts tun.“

Dafür erteilte der Bundestrainer seinem Hoffnungsträger für die Zukunft die Erlaubnis, im Athletendorf zu randalieren. „Ich habe ihm gesagt, dass er seinen Frust an etwas auslassen soll, es darf nur nicht zu teuer sein“, sagte Lambertz. Ob Heidtmann dieser Einladung zum Frustabbau folgte, ist ungewiss. Am Wochenende wurde der Youngster komplett von den Medien abgeschirmt.

Einzig auf seiner Facebookseite meldete er sich zu Wort. Dort schrieb er: „Es ist total schwierig, dieses Gefühl zu beschreiben. Einerseits höre ich von allen Seiten, wie zufrieden ich mit mir sein kann. Andererseits würde ich meine sehr gute Form auch schwarz auf weiß im Protokoll bestätigt wissen. Die Olympischen Spiele sind das, wofür ich die letzten vier Jahre hart gearbeitet habe. Und jetzt aufgrund einer Disqualifikation das Finale zu verpassen, ist mehr als bitter für mich. Vielen Dank für all eure lieben und aufbauenden Worte!“

Tatsächlich müssen die kommenden Wochen zeigen, wie es nun mit Heidtmanns Karriere weitergeht. Seine Mutter deutete in einem Fernsehinterview nach dem Rennen das an, was ihr Sohn in den vergangenen Monaten auch schon hatte durchklingen lassen: dass der enorm hohe Aufwand für den Sport, der in keinem Verhältnis zum Ertrag steht, ihn zu einem frühen Ausstieg aus dem Leistungssport zwingen könnte. Das harte und entbehrungsreiche Training, das ihm ausschweifende Partys mit seinen Kumpels ebenso unmöglich macht wie den regelmäßigen Besuch der Spiele seines Lieblings-Fußballclubs FC St. Pauli, hat bereits in einer so frühen Phase der Laufbahn zu Abnutzungserscheinungen geführt. Dann eine solche Enttäuschung erleben zu müssen wie am Sonnabend in Rio, trägt nicht unbedingt zu einer Luststeigerung bei.

Beim DSV werden sie selbstverständlich alles versuchen, um den WM-Fünften von Kasan 2015 bei der Stange zu halten. Heidtmann, der als Kind lieber Fußballer werden wollte und zum Schwimmen kam, weil er als hyperaktiv galt, ist ein Bewegungstalent. Er ist der erste Schüler, der die Eliteschule des Sports am Alten Teichweg mit dem Abitur verlassen und sich für Olympia qualifiziert hat. 2013 gewann er bei den deutschen Meisterschaften in Berlin Bronze. Es war seine erste Medaille im Erwachsenenbereich.

Ingrid Unkelbach, Leiterin des Olympiastützpunktes Hamburg/Schleswig-Holstein, kann den Frust des für das Swim-Team Elmshorn startenden Sportlers komplett nachvollziehen. „Das ist wirklich schöner Mist, weil man beim Schwimmen eben nicht am nächsten Tag zeigen kann, dass man es draufhat, weil das nächste Mal ewig hin ist. Jacob tut mir sehr leid, so eine geile Leistung und dann so ein Ende, das tut weh“, sagte sie.

Heidtmann soll in der 4x200-Meter-Freistil-Staffel starten

Im deutschen Schwimmteam, das am ersten Wettkampftag fast komplett unterging (siehe weiteren Text auf dieser Seite), versuchten alle, dem trauernden Kollegen Mut zuzusprechen. „Wir hatten uns alle mit ihm gefreut, doch als wir dann auf die Anzeigetafel schauten, gab es lange Gesichter“, sagte Freistilschwimmer Clemens Rapp. „Trotzdem werden wir versuchen, Jacob jetzt wieder aufzubauen.“

Viel Zeit, um den Frust in sich hineinzufressen, hat Jacob Heidtmann auch nicht. Bundestrainer Lambertz erklärte am Sonnabend, den gebürtigen Pinneberger entgegen seinen ursprünglichen Planungen für die 4x200-Meter-Freistil-Staffel zu nominieren, die am Dienstag ansteht, um ihm sofort ein neues Ziel zu geben.

„Dafür werde ich mich jetzt bereithalten und hoffe, die Jungs noch unterstützen zu können“, schrieb Heidtmann – und endete mit einem Zitat, das für sich spricht: „Wenn du vor einer Mauer stehst, dann gib nicht auf, sondern überlege, wie du darübersteigen, durch sie hindurch oder um sie herum laufen kannst.“