Toronto. Internationales Olympisches Komitee berät heute über einen Olympiaausschluss. Russlands Präsident Putin suspendiert Funktionäre

Manipulierte Dopingproben, erschwindelte Medaillen und konspirative Unterstützung mithilfe des Geheimdienstes: Russland hat nach Ansicht der Ermittler der Welt-Antidoping-Agentur (Wada) jahrelang Doping im Spitzensport staatlich geschützt und gefördert. Zwischen den Jahren 2012 und 2015 seien 643 positive Dopingproben russischer Athleten in rund 30 Sportarten verschwunden – und mussten damit als negativ bewertet werden.

Ein Olympiaausschluss für die gesamte russische Mannschaft rückt nach neuen, erschreckenden Enthüllungen über jahrelanges Staatsdoping im größten Land der Welt immer näher. Der mit Spannung erwartete McLaren-Report hat 18 Tage vor Beginn der Sommerspiele in Rio de Janeiro einen der größten Skandale der Sportgeschichte offenbart und den Weltsport erschüttert.

Dem Bericht zufolge hat das russische Sportministerium weitreichende Manipulationen auch während der Winterspiele in Sotschi 2014 „gelenkt, kon­trolliert und überwacht“. Die Wada, die den 97-seitigen Report initiiert hatte, forderte umgehend Russlands Aus für Rio (5. bis 21. August) und andere internationale Sportereignisse.

Auch Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), reagierte schockiert, traf aber noch keine Maßnahmen. „Die Ergebnisse des Berichts zeigen einen erschreckenden und beispiellosen Angriff auf die Inte­grität des Sports und der Olympischen Spiele. Daher wird das IOC nicht zögern, die härtesten Sanktionen gegen jede beteiligte Person oder Organisation zu treffen.“ Das IOC-Exekutivkomitee wolle in einer Telefonkonferenz am heutigen Dienstag erste Entscheidungen treffen, die auch „vorläufige Sanktionen mit Blick auf die Olympischen Spiele 2016 in Rio“ beinhalten könnten.

Vor der Veröffentlichung des Berichts hatte Bach noch betont, das IOC müsse die Balance zwischen kollektiver Verantwortung und individueller Gerechtigkeit finden. „Jeder, der nicht involviert war, kann nicht für das Fehlverhalten anderer bestraft werden.“

Wladimir Putin reagierte am Abend. Russlands Staatspräsident suspendierte jene Offizielle vorläufig, die in dem Report namentlich genannt wurden. Putin beklagte aber mit Verweis auf den Olympiaboykott 1980 in Moskau, dass die aktuelle Situation „ein gefährlicher Rückfall von politischer Einmischung in den Sport“ sei. Die Anschuldigungen gegen russische Athleten basierten aus seiner Sicht zudem auf Beweisen, die von Personen mit miserabler Reputation stammten.

Empfehlungen gab der Report ausdrücklich nicht – dennoch setzt er das IOC unter Druck. Die Erkenntnisse des kanadischen Anwalts Richard McLaren sind unmissverständlich. Demnach sind auch nicht nur die Sotschi-Spiele und Wintersportler betroffen: „Russische Athleten aus den meisten Sommer- und Wintersportarten“ hätten von der Manipulationsmethode, die von „mindestens Ende 2011 bis August 2015“ geplant und durchgeführt worden sei, profitiert. 643 positive Proben seien in diesem Zeitraum vertauscht worden. Eine Gruppe von 312 aussichtsreichen russischen Athleten wurde durch die Vertuschung geschützt. Bei allen Fläschchen mit den Urin- oder Blutproben wurden Manipulationen festgestellt.

Das russische Sportministerium habe die Manipulation mithilfe des Geheimdienstes FSB durchgeführt. Auch das Moskauer Stammlabor war eingebunden. McLaren bestätigte damit Aussagen des russischen Kronzeugen Gregori Rodtschenkow. Mehrere Dutzend russische Sportler, darunter mindestens 15 Medaillengewinner, sollen in Sotschi gedopt an den Start gegangen sein. „Ich bin sehr überzeugt von unseren Ergebnissen. Wir haben viele Beweise, die keine Zweifel zulassen“, sagte McLaren.

Die deutsche Nationale Antidoping-Agentur (Nada) forderte wie die Wada den Ausschluss Russlands von den Spielen. Ähnlich deutlich wurde Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB): „Wer die Werte des Sports wie Fair Play und Chancengleichheit auf diese bewusste Art mit Füßen tritt, muss auf die Strafbank.“ Nun ist das IOC am Zug. Zuletzt hatte Bach versucht, den Sotschi-Skandal von den Spielen in Rio fernzuhalten, indem er die Wintersportverbände für zuständig erklärte. Der 62-Jährige, ein Intimus von Russlands Präsident Putin und strikter Gegner von Sippenhaft-Maßnahmen, muss sich nun an seiner ersten klaren Reaktion nach der Veröffentlichung messen lassen. Zudem steht Bach eine weitere Entscheidung mit sportpolitischer Sprengkraft ins Haus, wenn er über das Startrecht der Whistleblowerin Julia Stepanowa für Rio befindet. Ebenfalls wegweisend: Bis Donnerstag will der Sportgerichtshof CAS über die Klage von 68 russischen Leichtathleten gegen die durch den Weltverband IAAF verhängte Kollektivsperre für Rio entscheiden.

Russen reagieren empört auf die Ausschluss-Forderungen

Der oberste US-Dopingfahnder Travis Tygart, der einst den Super-Doper Lance Armstrong (USA/Radsport) zur Strecke brachte, forderte Bach in einem Brief dazu auf, „noch vor dem 26. Juli zu handeln und Russland, sein Olympisches und Paralympisches Komitee sowie sämtliche russischen Sportverbände von den Spielen in Rio auszuschließen“. Am Wochenende schlossen sich 20 Nationale Antidoping-Agenturen, darunter auch die deutsche Nada, an. Offenbar herrscht in den Reihen der Dopingjäger mittlerweile auch tiefes Misstrauen gegenüber der IOC-Führungsriege, die zwar gebetsmühlenartig den „Schutz der sauberen Athleten“ und eine „Null-Toleranz-Politik“ propagiert, gegenüber der Sportgroßmacht Russland bislang aber extrem zurückhaltend auftrat.

Sollten die Wintersportverbände Strafen gegen russische Medaillengewinner von Sotschi vollziehen, dürfen auch deutsche Athleten hoffen. In drei Fällen würden sie auf den Bronzerang rutschen (Claudia Pechstein/Eisschnelllauf, Andi Langenhan/Rodeln, Patrick Bussler/Snowboard), in zwei Fällen sogar Olympiasieger werden (Aljona Savchenko/Robin Szolkowy/Paarlauf, Männer-Staffel/Biathlon). Der russische Eiskunstlauf-Olympiasieger Jewgeni Plu-schenko wies die Vorwürfe zurück: „Ich habe nie gedopt.“ Russland hatte schon vor der Veröffentlichung empört auf Forderungen nach einem kompletten Ausschluss reagiert. Formell müssten nun die internationalen Sportverbände in jeder Sportart eine Entscheidung treffen. In der Leichtathletik hat der Weltverband bereits die russischen Athleten von Olympia ausgeschlossen.