Hamburg. Deutschlands Nummer eins scheitert am Rothenbaum im Viertelfinale. Daviscup-Teamchef analysiert die Halbfinalisten.

Es gibt Dinge, die muss man gesehen haben, um sie glauben zu können. Und selbst dann ist es schwer, sie zu verstehen. 31 Minuten brauchte Deutschlands bester Tennisspieler am Freitagnachmittag auf dem Centre-Court am Rothenbaum, um den ersten Satz seines Viertelfinals mit 6:1 zu gewinnen. Wohl keiner der rund 6000 Zuschauer hätte auch nur einen Moment daran gezweifelt, dass Philipp Kohlschreiber gegen den Argentinier Renzo Olivo zum zweiten Mal nach 2014 das Halbfinale des traditionsreichsten deutschen Herrenturniers erreichen würde.

Doch nach 110 Spielminuten stand ein fassungsloser Südamerikaner bei Stadionsprecher Matthias Killing im Siegerinterview – und bat die Fans nach seinem 1:6, 6:0, 7:5-Triumph um Entschuldigung. „Natürlich tut es mir Leid, euren Liebling rausgeworfen zu haben“, sagte der Weltranglisten-153., der in Hamburg bei seinen bisherigen zwei Auftritten nicht über die zweite Runde der Qualifikation hinausgekommen war. „Es war ein verrücktes Match, und für mich ist es absolut erstaunlich, dass ich gegen einen solchen Spieler in Deutschland gewinnen konnte.“

Tatsächlich, das war erstaunlich, und irgendwie passt es zum diesjährigen Turnier, dass nach den Absagen von 14 beim zeitgleich angesetzten Daviscup-Viertelfinale gebundenen oder wegen Krankheit verhinderten Topspielern nun auch der topgesetzte – und zudem letzte verbliebene deutsche – Profi das Finalwochenende nicht auf dem roten Sand an der Hallerstraße erleben wird. Eine Erklärung für seinen Einbruch, der zu einem indiskutablen zweiten Satz geführt hatte, konnte Kohlschreiber auch nicht geben. „Ich bin an mir selbst gescheitert“, sagte der an Position 22 der Weltrangliste geführte Augsburger, „diese Niederlage tut mir richtig weh.“

Selten wohl wäre es so einfach gewesen, ein Turnier der dritthöchsten Kategorie hinter Grand Slam und Masters zu gewinnen, 500 Weltranglistenpunkte einzufahren und 316.000 Euro Preisgeld zu kassieren. Aber Kohlschreiber ließ nach einem begeisternden ersten Satz, in dem er den 24 Jahre alten Olivo mit Spielwitz und Variabilität über den Platz hetzte wie eine Meute Jagdhunde ihre Beute, die Courage vermissen, um in den entscheidenden Momenten zuzupacken. Bei 5:3- und 5:4-Führung im dritten Satz vergab er je einen Matchball leichtfertig. „Ich habe es versäumt, den Sack zuzumachen, habe nur dagegengehalten anstatt zu gestalten“, sagte der 32-Jährige selbstkritisch, „leider habe ich die ganze Woche hier nie mit Leichtigkeit gespielt.“

Nach Kohlschreibers Aus gilt Pablo Cuevas als Titelfavorit

Olivo dagegen war von der eigenen Leistung berauscht. Die Aufgabe, die im Halbfinale am Sonnabend (15 Uhr/Hamburg 1) auf den Rechtshänder wartet, der auf der ATP-Tour bis dato nur zwei Viertelfinalteilnahmen vorweisen konnte, dürfte eine erneute Leistungssteigerung vonnöten machen. Nach Kohlschreibers Aus gilt Pablo Cuevas als Topfavorit. Der Weltranglisten-24., der gegen den Franzosen Paul-Henri Mathieu durch ein 7:6 (9:7), 6:1 sein zweites Halbfinalticket in Hamburg nach 2009 buchte, ist der einzige Spieler im Feld, der noch keinen Satz abgegeben hat.

Der 30-Jährige aus Uruguay, der im Februar in Rio de Janeiro sein erstes 500er-Turnier gewinnen konnte und insgesamt fünf ATP-Titel vorweisen kann – alle auf Sand –, hat enorme Sicherheit in seinen Schlägen und macht wenig unerzwungene Fehler. Er übt viel Druck aus mit temporeichen und vor allem platzierten Schlägen. „Cuevas ist seit einigen Jahren einer meiner Lieblingsspieler“, sagt der deutsche Daviscup-Teamchef Michael Kohlmann, der fürs Abendblatt die Halbfinalisten analysiert. „Er spielt extrem sauber mit einer starken Rückhand und einem sehr gefährlichen Kick-Aufschlag, mit dem er den Gegner weit aus dem Feld zwingt. Gegen Olivo, der zwar unangenehm ist, aber keinen Schlag besonders gut beherrscht, ist er der Favorit.“

Favorit des Publikums ist seit Freitag indes der Franzose Stephane Robert. Nachdem der Weltranglisten-83. im zarten Alter von 36 Jahren durch einen 7:6 (7:4), 4:6, 6:3-Sieg über den Spanier Guillermo Garcia-Lopez sein erstes ATP-Tour-Halbfinale erreicht hatte, wagte er unter dem Jubel der Fans zur Musik aus den Lautsprechern ein etwas steif wirkendes Tänzchen. „Ich spiele das beste Tennis meiner Karriere. Dass ich nach so vielen Jahren, in denen ich gefühlt nur verletzt war, das jetzt erleben kann, ist großartig“, freute sich der im Mai 2015 auf Rang 558 der Welt abgerutschte Franzose, der im zweiten Halbfinale am Sonnabend auf den Slowaken Martin Klizan trifft. Der 27 Jahre alte Weltranglisten-47., der im Februar in Rotterdam sein erstes 500er-Turnier gewann, setzte sich gegen den Spanier Daniel Gimeno-Traver mit 6:4, 6:3 durch.

„Robert nutzt jede Gelegenheit, um lange Ballwechsel zu unterbinden, er spielt sehr offensiv, aber auch unrhythmisch. Klizan, einziger Linkshänder im Halbfinale, ist der geradlinigere Spieler mit viel Zug auf Vor- und Rückhand“, sagt Kohlmann, „er ist ein sehr emotionaler Kämpfer, der die große Chance sieht, sich ganz nach oben zu spielen.“

Die Chance für Turnierdirektor Michael Stich, nach dem Finale am Sonntag (15 Uhr/Hamburg 1) endlich seinen Nachfolger nach 23 Jahren ohne deutschen Sieger zu ehren, hat Philipp Kohlschreiber leichtfertig vertan.