EM-Analyse Die deutsche Mannschaft hat ein gutes Turnier gespielt, aber zu wenig Torgefahr ausgestrahlt

Nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft haben manche Spieler gesagt, dass die bessere Mannschaft das Spiel verloren hat. Ich sehe das anders: Der Sieg der Franzosen war verdient. Ins Finale ist das Team eingezogen, das den einen Tick cleverer und kaltschnäuziger war.

Im Halbfinale hat sich ein Problem der deutschen Mannschaft erneut gezeigt: Wir schießen zu wenig Tore. Spätestens nach dem Kopfball von Benedikt Höwedes, der ganz knapp das Tor verfehlte, war mir klar, dass das an diesem Tag nichts mehr werden würde.

Dennoch wäre es verkürzt, alles auf den Faktor Pech zu schieben. Nein, wir müssen ehrlich sein. Nach dem Abschied von Miroslav Klose haben wir ein Mittelstürmer-Problem. Mario Gomez hat das zwar sehr gut gemacht, aber mit fast 31 Jahren ist auch er keine zukunftsweisende Lösung mehr.

Beim Spiel gegen Frankreich habe ich manchmal an unsere EM 1996 gedacht, auch damals mussten wir Ausfälle von vielen Leistungsträgern verkraften. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied. Wir wussten, dass wir mit Oliver Bierhoff, Jürgen Klinsmann und Stefan Kuntz Spieler im Kader hatten, denen eine gute Flanke für ein Tor reichen kann.

Dieses einfache System mit Flanken auf einen extrem kopfballstarken Stürmer hält man in Deutschland offenbar inzwischen für antiquiert. Ich habe den Eindruck, dass dies auch für den Nachwuchsbereich gilt. Ständig ist die Rede von der „falschen Neun“, also von spielerisch starken Offensivkräften, mit denen du selbst im gegnerischen Strafraum Kombinationsfußball spielen kannst. Alles schön anzuschauen, keine Frage. Aber manchmal gibt es Situationen, wo du das Tor erzwingen musst, notfalls mit der Brechstange. Diese Durchschlagskraft hat uns im gesamten Turnier gefehlt. Wenn dann noch ein Thomas Müller ausgerechnet in der Endrunde eine Torblockade entwickelt, hast du ein echtes Problem.

Neben Müller hat mich auch Mario Götze enttäuscht. Ich glaube, ein Vereinswechsel wäre gut für ihn. Auch unter dem neuen Bayern-Trainer Carlo Ancelotti wird er es schwer haben. Mario braucht jetzt einen Trainer, der wirklich auf ihn setzt. Einen wie Jürgen Klopp, unter dem er seine größten Erfolge gefeiert hat. Klopp mit seinen Motivationskünsten traue ich zu, Mario wieder zu alter Stärke zu verhelfen. Toni Kroos hat mich auch nicht restlos überzeugt. Er hat zwar eine überragende Ballsicherheit, spielt aber zu wenig tödliche Pässe, also Vorlagen, die sofort für Torgefahr sorgen. Und ein Spieler mit diesen Schussqualitäten sollte öfter den Abschluss suchen.

Dennoch wäre es falsch, jetzt alles schlechtzureden. Insgesamt haben wir ein gutes Turnier gespielt. Allein um Torwart Manuel Neuer sowie das Innenverteidiger-Duo Jerome Boateng und Mats Hummels beneidet uns die Welt, auch Joshua Kimmich und Jonas Hector haben mir auf den Außenbahnen gefallen.

Jeromes Adduktorenverletzung zeigt indes ein Grundproblem: Durch die Ausweitung der Welt- und Europameisterschaften werden die Regenerationszeiten immer kürzer, womit die Verletzungsanfälligkeit steigt. Bei dieser EM hat man gesehen, dass viele Topspieler ihr Niveau nicht erreichen konnten. Wir müssen aufpassen, dass wir das Rad nicht überdrehen.