Lyon. Portugal stand kurz vor dem Vorrundenaus – und kann plötzlich vom ersten internationalen Titel träumen

Der Mann im Trikot mit der Nummer sieben nahm die Trophäe unter den Arm und strebte dem Parkplatz entgehen. Raus aus dem Stadion, vorbei am Mannschaftsbus, hinein in die Sommernacht. Unverkennbar der breitbeinige Gang und der entschlossene Schritt. „Glückwunsch“, riefen die Umstehenden. Da drehte sich der Mann zur Seite und lachte. Es war tatsächlich ein Aveiro. Hugo Aveiro.

Der Bruder von Cristiano Ronaldo Aveiro dos Santos managt das „Museu CR7“ auf der Heimatinsel Madeira und sicherte sich die neuste Reliquie also gleich mal persönlich. Auch diese grüngräuliche Stange, die bei der EM als Pokal für den „Mann des Spiels“ fungiert, wird ihren angemessenen Platz in der Ruhmeshalle am Hafen von Funchal erhalten. Größere Umbauarbeiten werden allerdings erst die Geschehnisse am Sonntag vonnöten machen – wenn Portugal dann wirklich den EM-Titel gewinnt.

Die entsprechende Zuversicht war nach dem Finaleinzug durch ein 2:0 gegen Wales am Mittwochabend schon zu spüren. Seit 13 Spielen hat die Elf von Fernando Santos nicht mehr verloren. Als der Cheftrainer nach dem Remis gegen Österreich verkündete, „ich plane nicht vor dem 11. Juli nach Hause zu kommen und ich habe das Gefühl, dass dort eine Party auf mich wartet“ – da wurde er noch müde belächelt. Nun kann er mehr und mehr als Prophet gelten. Am Mittwoch erinnerte er daran, dass seine Amtszeit vor knapp zwei Jahren mit einem Testspiel gegen Frankreich in Saint-Denis begann. „In der Teamansprache damals setzten wir uns zusammen das Ziel, zum EM-Finale zurückzukehren. Wir haben es geschafft. Jetzt haben wir das Finale. Wer immer diesen Satz gesagt hat: Finals spielt man nicht, man gewinnt sie.“

2004 verlor man es noch, im traurigsten Spiel der portugiesischen Fußballhistorie stahlen die von Otto Rehhagel trainierten Griechen dem Favoriten den Titel bei seiner Heim-EM. Santos kommentierte damals für einen portugiesischen Radiosender. „16 Spieler auf dem Platz kannte ich persönlich“, erinnert er sich, er ist ja seit Jahren ein Wanderer zwischen beiden Ländern. Dass er so lange in Griechenland trainierte, erst diverse Clubs, später die Nationalelf – dieser Umstand befördert in Portugal schon seit Tagen einen quasi mystischen Glauben. Ist es endlich so weit? Kann man diesmal selbst Griechenland sein? Die neue Rolle als pragmatischer, teilweise ungeliebter Außenseiter hilft, das ewige Scheitern eines Landes zu vergessen, das viele große Fußballer produzierte, aber immer noch auf seinen ersten internationalen Titel wartet.

Bei diesem Turnier scheinen alle Täler durchschritten. Gegen Island und Österreich konnte die „Seleção“ nicht gewinnen, im dritten Gruppenspiel gegen Ungarn lag sie sogar dreimal zurück, eine Blamage von historischem Ausmaß drohte. Doch dreimal kam Portugal zurück und schaffte mit einem 3:3 als Gruppendritter den Achtelfinaleinzug. Nach nur zwei Tagen Erholung eliminierte es in der 117. Minute den Titelkandidaten Kroatien. Im Viertelfinale gegen Polen brauchte es das Elfmeterschießen. „Es ist ein Marathon“, sagt Ronaldo. Sein Team hat Steherqualitäten bewiesen, und die Dinge haben sich zum Guten gewandt.

Für ihn persönlich gilt das allemal. Vor zwei Wochen saß der Torjäger von Real Madrid im selben Pressesaal von Lyon, ebenfalls als „Mann des Spiels“. Am selben Morgen hatte er das Mikrofon eines unliebsamen Reporters in einem Teich versenkt, die portugiesische Delegation weigerte sich, das übliche Fragen-und-Antwort-Spiel durchzuführen. Nun sprach er über einen Tag, der aus seiner Sicht der Perfektion nahekommen musste. Finale erreicht, Tor geschossen, dadurch Michel Platinis EM-Rekord eingestellt (neun Treffer); maliziös ließe sich noch die Nachricht addieren, dass sein titellos aus der Nationalelf zurückgetretener Erzrivale Lionel Messi, der argentinische Superstar des FC Barcelona, auch noch wegen seiner Steuersache zu 21 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde.

Portugal ist längst nicht nur Ronaldo, sondern eine Einheit

Dazu wurde er natürlich nicht gefragt, nach dem Rekord aber schon, und Ronaldo nutzte die Zeit für ein Plädoyer über seine Wandlung zum Teamplayer. „Portugal bin nicht nur ich, Portugal ist eine Mannschaft“, sagte er. „Ich habe versucht zu helfen, wo ich kann. Gekämpft, in der Abwehr ausgeholfen. Ich habe alles gegeben.“ Er und die ganze Mannschaft hätten immer davon geträumt, am Sonntag das Finale zu spielen, etwas für Portugal zu gewinnen. „Träumen ist gratis. Lasst uns weiterträumen.“ Und ja, er habe ein gutes Gefühl: „Ich bin zuversichtlich, dass wir jetzt fällig sind.“

Sprach’s, wedelte zum Abschied mit dem Arm in die Runde, ohne hinzuschauen, posierte mit asiatischen Sponsorenvertretern, bis diese ihre zahlreichen technischen Geräte mit Souvenirfotos bestückt hatten, und drückte seinem Bruder die Trophäe in die Hand. Glückwunsch? Davon wollen sie in Portugal noch nichts hören, wie Fernando Santos klarstellte: „Gratulieren Sie mir am Sonntag“, sagte der Trainer, der mit seinen Vorhersagen hier bisher ziemlich gut liegt.

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