Hamburg. Ehemaliger Präsident des Kiezclubs über überraschende Angebote, existentielle Finanzkrisen und fehlgesteuerte Basisdemokratie.

Es ist ein echtes Heimspiel: Zum Interview mit dem Abendblatt bittet Corny Littmann (63) in die Bar des Schmidts Tivoli an der Reeperbahn. Diesmal soll es allerdings nicht um die Zukunft seiner Theater gehen, sondern um den FC St. Pauli. Ab 2003 führte Littmann als Präsident den Kiezclub durch dessen schwerste finanzielle Krise, brachte dann den Neubau des Stadions sogar eigenhändig mit einem Abrissbagger in Gang und trat 2010 unmittelbar nach dem feststehenden Bundesliga-Aufstieg zurück. Corny Littmann verfolgt weiter intensiv das Geschehen rund um den FC St. Pauli. Und bei allen Komplimenten für die jetzige Vereinsführung ist er nicht mit jeder Entwicklung einverstanden.

Mit welchen Gefühlen betrachten Sie die Entwicklung des FC St. Pauli, nachdem Sie den Club vor rund 13 Jahren mit der Retter-Aktion vor dem Schlimmsten bewahrt und in die wirtschaftliche Solidität geführt haben?

Corny Littmann: Ich betrachte das mit Zufriedenheit, nicht nur mit Rückblick auf die Retteraktion, sondern mit Rückblick auf die ersten Jahre meiner Präsidentschaft. Die Retteraktion wird ja auf das Jahr 2003 reduziert. Da war die Frage, ob wir überhaupt eine Lizenz für die Dritte Liga erhalten. Tatsächlich aber hat der FC St. Pauli drei Jahre lang täglich ums Überleben gekämpft. Die Probleme waren mit der Retteraktion nicht beendet, weil die Altlasten erheblich waren. Wenn ich also heute das Stadion betrete, bin ich mit dem Ergebnis ausgesprochen zufrieden. Und wenn Sie heute auf die wirtschaftliche Situation des FC St. Pauli schauen, kann man feststellen, dass es einen Profiverein in Hamburg gibt, der wirtschaftlich gesund ist. Der heißt FC St. Pauli. Das hätte vor 13 Jahren keiner gedacht.

Haben Sie in den von Ihnen beschriebenen schweren Jahren an einem Tag mal gedacht, dass es nicht weitergeht und Sie zum Insolvenzgericht gehen müssen?

Littmann : Bis zum Erreichen des Pokal-Halbfinales im Frühjahr 2006 sind wir fast täglich an der Insolvenz vorbeigeschrammt. Streng genommen gab es Situationen, in denen der FC St. Pauli zahlungsunfähig war. Ich habe dem Verein damals mit privaten Mitteln geholfen, Liquiditätsprobleme zu überbrücken. Es ging da um knapp 400.000 Euro, dazu kamen noch Bürgschaften. Ich habe aber alles zurückbekommen. Darauf lege ich wert.

Gab es damals auch schon Angebote, Anteile zu erwerben, so wie es jetzt beim HSV praktiziert wird?

Littmann : Es gab es Interesse von einer Investorengruppe, einer davon war Mitglied der Familie Osmani. Aber für mich kam nie infrage, dass der FC St. Pauli mit dieser Gruppe Geschäfte macht.

War es das einzige Angebot?

Littmann : Na ja, einmal saß Wladimir Klitschko bei einem Spiel im Stadion neben mir. Kurz nach dem Anpfiff fragte er mich: „Sag mal, was kostet denn der Verein?“ Da habe ich ihm gesagt: es tut mir leid, aber der Verein ist unverkäuflich. Damals ging es uns schon besser, wir spielten in der Zweiten Liga, und so ganz ernst war die Frage von Wladimir, glaube ich, auch nicht gemeint.

Wie bewerten Sie, dass beim HSV der Investor Klaus-Michael Kühne ein Veto-Recht bei Spielereinkäufen besitzt?

Littmann : Ich halte es grundsätzlich für problematisch, wenn ein Außenstehender, der nicht in einem Arbeitsverhältnis zu einem Verein steht, ein Mitspracherecht bei der Verpflichtung von Spielern hat. Das meine ich aber ganz grundsätzlich und nicht speziell nur zum Engagement von Herrn Kühne. Ich habe immer darauf bestanden, dass wir hauptamtlich Beschäftigte haben, die auch verantwortlich die sportlichen Entscheidungen treffen, also einen Sportdirektor und ein Trainerteam.

Die sind ja bisweilen auch nicht immer einer Meinung.

Littmann : Das stimmt. Ich kann mich noch gut erinnern, als bei uns Helmut Schulte Sportdirektor und Holger Stanislawski Trainer waren. Die persönlichen Sympathien der beiden hielten sich in Grenzen. Bei Spielerverpflichtungen habe ich beiden gesagt, mich interessiert überhaupt nicht, wie gut ihr miteinander könnt. Wenn ihr einen Vorschlag macht, welchen Spieler wir verpflichten sollen, dann ist das ein gemeinsamer Vorschlag von euch beiden inklusive Co-Trainer André Trulsen. Sie mussten sich also zusammenraufen, dafür sind sie auch bezahlt worden.

Als Sie damals mit dem Bagger angefangen haben, das alte Stadion abzureißen, haben Sie Fakten geschaffen, obwohl nach unserer Kenntnis noch nicht einmal eine Baugenehmigung vorlag. Konnten Sie das nur machen, weil Sie als Corny Littmann einen Namen und eine Reputation in dieser Stadt und speziell auf St. Pauli besitzen?

Littmann : Das weiß ich nicht. Richtig ist, dass wir damals Fakten geschaffen haben. Hätten wir dies nicht getan, gäbe es heute kein neues Stadion. Es gibt in diesem einen Punkt tatsächlich eine Parallelität zum HSV, die Verantwortlichen haben es beim Stadion-Neubau ähnlich gemacht hat.

Die endgültige Zusage der Stadt für die Anschubfinanzierung von fünf Millionen Euro lag ja auch noch nicht vor.

Littmann : Aber ich hatte zu dem Zeitpunkt die Zusage des Bürgermeisters. das hat mir gereicht.

Wie bewerten Sie, dass die Stadionwache jetzt zu erheblichen Mehrkosten neben dem Stadion und nicht im Inneren der Gegengerade gebaut worden ist?

Littmann : Es sind nach meiner Kenntnis netto immerhin 130.000 Euro Mehrkosten – und zwar pro Jahr. Grundsätzlich ist ja vom Ligaverband DFL eine Polizeiwache vorgeschrieben. Mir erschließt sich nicht, was der außerordentliche Gewinn einer Wache 20 Meter außerhalb des Stadion ist.

Bei einer Polizeiwache im Millerntor-Stadion wäre kein Platz mehr für das dort geplante Museum gewesen.

Littmann : Ich habe mich mit dem Thema Museum auf St. Pauli lange beschäftigt. Es gibt und gab viele Museen im Stadtteil. Ich hätte es für wünschenswert gehalten, wenn es im Zuge der Neubebauung des Esso-Geländes ein Museum gäbe, in dem alle Aspekte des Stadtteils – und dazu gehört zweifelsohne der FC St. Pauli – vereinigt werden. Die Parzellierung von Museen führt dazu, dass jedes Museum für sich ständig ums Überleben kämpft. Ich glaube, ein solch Themen-übergreifendes Museum wäre für den Stadtteil sehr attraktiv gewesen. Darüber hinaus habe ich frühzeitig vorgeschlagen, im Stadion-Rundgang ein Museum neuer Art zu installieren, das zum Image des FC St. Pauli passt. Verbunden mit einer einzigartigen Stadion-Museumsführung.

Bei den organisierten Fans wäre eine Polizeiwache im Stadion, die auch noch direkt neben dem Fanladen und den Fanräumen gelegen hätte, auch auf erheblichen Widerstand gestoßen. Ist das auch Indiz für die Macht der Fans?

Littmann : Das ist für mich nicht das Problem. Vielmehr ist für mich das Problem die Satzung des Vereins und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Der Verein in der Mehrheit seiner Mitglieder hat den Anspruch, ein basisdemokratischer zu sein, also ein Verein mit einem großen Mitspracherecht seiner Mitglieder. Faktisch ist es so, dass der FC St. Pauli inzwischen mehr als 20.000 Mitglieder hat, von denen aber nur 500 bis 1000 zu einer Jahreshauptversammlung kommen, die laut Satzung das höchste, beschlussfassende Gremium ist. Es sind also höchstens zweieinhalb bis fünf Prozent der Mitglieder, die alles entscheiden können. Mir erschließt sich nicht, was das noch mit Basisdemokratie zu tun hat.

Man kann doch kein Mitglied zwingen, zur Versammlung zu kommen.

Littmann: Ich denke, dass es heute die modernen Medien ermöglichen, dass tatsächlich ein Großteil der Mitgliedschaft über wichtige Dinge entscheiden kann. Stattdessen können heute 300 Mitglieder und insbesondere die, die lange ausharren, wichtige Entscheidungen treffen. Ein Delegiertensystem wäre in jedem Fall demokratischer.

Ist es angesichts der wirtschaftlichen Größenordnung heute noch zeitgemäß, dass ein Präsidium ehrenamtlich arbeitet?

Littmann: Wenn Aufgaben und Entscheidungsprozesse gerade unter den Hauptamtlichen sinnvoll verteilt sind, kann ein Präsidium auch gut ehrenamtlich arbeiten. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es einer gewissen Entschiedenheit bedarf, das auch tun zu können. Kurz gesagt: Wer nicht Nein sagen kann, sollte nicht Präsident werden. Im Gegensatz zu anderslautenden Gerüchten habe ich zum Beispiel sehr oft Gespräche mit Fangruppen geführt – aber immer zeitlich begrenzt. Wenn ich gesagt habe, ich habe bis sieben Uhr Zeit, bin ich auch um sieben Uhr aufgestanden und gegangen, auch wenn die Fans gerne noch drei oder vier Stunden weiter diskutiert hätten.

Wie bewerten Sie die bisherige Arbeit des jetzt amtierenden Präsidiums?

Littmann: Andreas Rettig und Ewald Lienen sind ein Segen für den FC St. Pauli. Diese beiden Personalentscheidungen hat das jetzige Präsidium getroffen. Es sind die wichtigsten Entscheidungen dieses Präsidiums, und es sind richtige Entscheidungen gewesen. Ein Präsidium, das im Amt ist, wenn es dem Verein wirtschaftlich gut geht, wird sich an den zentralen Personalentscheidungen messen lassen müssen. Andreas Rettigist nicht nur wegen seiner Geschichte und seiner Kontakte ein Gewinn für den FC St. Pauli. Er ist auch jemand, der professionelle Strukturen nicht nur kennt, sondern auch in der Lage ist, diese zu schaffen, wo sie notwendig sind. Solche Strukturen sind beim FC St. Pauli auch dringend notwendig.

Wie bewerten Sie Andreas Rettigs Initiativen, wie etwa in Sachen TV-Gelder-Verteilung, mit denen er sich selbst, aber auch den Club ins Gespräch bringt.

Littmann : Andreas Rettig ist national so wertvoll für den FC St. Pauli, weil er in dieser Zwangsgemeinschaft der Deutschen Fußball Liga eine Reputation hat, die weit über das bisherige „Wir sind ein anderer Verein“ hinausgeht. Er wird gehört, wird ernst genommen und kann Anstöße geben. Ein „No name“ könnte gar nicht diese Wirkung erzielen. Eine Vernetzung, wie er sie besitzt, ist enorm wichtig für unseren Verein.

Wie sehen Sie den Umgang der Führung des FC St. Pauli mit verdienten, ehemaligen Spielern wie jüngst Fabian Boll?

Littmann : Auch wenn viele das nicht gerne hören, der FC St. Pauli ist ein Profiverein. Es gibt im Rahmen dieses Geschäftsbetriebes Fußball Möglichkeiten, inhaltlich anders zu agieren als die Masse es tut. Das geschieht von Seiten der St.-Pauli-Fans dankenswerterweise. Im Kern aber ist es ein beinhartes Geschäft. Eine Vereinsführung wäre schlecht beraten, wenn sie die Verdienste eines ehemaligen Spielers zum Hauptkriterium einer Verpflichtung machen würde. Ich gehe davon aus, dass in den Fällen, die jetzt hinterfragt werden, eine Entscheidung auf der Grundlage der Qualifikation des Betreffenden getroffen worden ist. Ich kenne Fabian Boll gut, aber ich weiß weder, ob er ein guter Trainer ist, noch weiß ich, ob er ein guter Polizist ist.

Haben Sie auch den Eindruck, dass sich die Stimmung am Millertor verändert hat, dass es nicht mehr den typischen „Roar“ gibt, sondern vorwiegend einen vom Spielgeschehen unabhängigen Dauergesang.

Littmann : Ich habe mir in Madrid das Stadtduell Real gegen Atletico angeschaut. Das Stadion war ausverkauft, aber die Stimmung war zehn Prozent von dem, was bei St. Pauli los ist. Die Zuschauer kommen direkt zum Anpfiff und sind nach dem Abpfiff ganz schnell weg. Die Spieler gehen nicht mal in die Fankurve. Was sich bei uns in den vergangenen 15 Jahren gewandelt hat, ist die Tatsache, dass ein Fußballspiel einen wesentlich stärkeren Eventcharakter bekommen hat. Dieses Event beginnt weit vor dem Anpfiff und endet erst lange nach dem Abpfiff. Insofern hat das Spiel an sich zumindest für viele junge Fans an Bedeutung verloren. Das gemeinschaftliche Erleben Stunden vor und nach dem Spiel hat an Bedeutung gewonnen. Als Purist verfolge ich nur das Spiel. Jubelgesänge sind mir ziemlich fremd, wenn die Mannschaft gerade in Rückstand liegt. Meine Stimmung richtet sich nach dem Spielverlauf. Man darf aber auch nicht vergessen, dass diejenigen, die vor 15 Jahren die Stimmung gemacht haben, auch 15 Jahre älter und gesetzter geworden sind.

Was halten Sie von dem viel diskutierten Modell RB Leipzig?

Littmann : Das ist der Anfang einer Entwicklung. Es wird zukünftig vermehrt Konstrukte geben, in denen ein nationaler oder auch internationaler Konzern strategischer Partner eines Clubs ist. Diese Welle der Kommerzialisierung wird am deutschen Fußball nicht vorbeigehen. Bei aller Kritik muss man aber auch sehen, dass die Leipziger Fans ausgesprochen froh sind, jetzt wieder Erstliga-Fußball erleben zu können.

Gibt es bei Ihnen manchmal Momente, in denen es Sie doch noch einmal reizt, ein Amt beim FC St. Pauli zu übernehmen?

Littmann : Nicht eine Sekunde. Ich verspüre auch keinen Phantomschmerz.