Montpellier. Italiens Graziano Pellè hat einen ungewöhnlichen Karriereweg hinter sich. Nun soll er Deutschland stoppen

In der Casa Azzurri wurde aus aktuellem Anlass das Programm umgestellt. Auf den Bildschirmen der traditionellen italienischen Begegnungsstätte bei großen Turnieren läuft nun in der Endlosschleife das WM-Halbfinale von 1970. Im „Spiel des Jahrhunderts“ besiegte Italien bekanntlich Deutschland mit 4:3 nach Verlängerung, es war das zweite von bislang acht Turnierspielen gegen den amtierenden Weltmeister, von denen Italien noch keins verloren hat. Boninsegna, Riva, Rivera – Italiens Torschützen trugen klangvolle Namen.

Ganz so berühmt ist Graziano Pellè noch nicht. Gut genug ausschauen, um auch in Jahrzehnten noch bewundert zu werden, tut der Mittelstürmer vom Premier-League-Club FC Southampton aber allemal. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa kam nach einer Analyse des Frauenzeitschriftenmarkts zu dem Schluss, dass am Sonnabend (21 Uhr/ARD) im Viertelfinale in Bordeaux die zwei größten Sexsymbole der EM direkt aufeinandertreffen: der deutsche Verteidiger Mats Hummels und eben Pellè. 1,94 Meter groß, makelloses Gesicht, 50er-Jahre-Tolle – in Italien vergleichen sie ihn mit Clark Gable und saugen Zitate wie jenes von Vater Roberto auf: „Schon früher mussten seine Freunde stundenlang auf ihn warten, bis er alles Gel im Haar hatte.“

Noch mehr schätzt das jeden Tag zunehmend in seine Fußballer verliebte Land – Rekordeinschaltquote von 78 Prozent beim Sieg gegen Spanien im Achtelfinale – allerdings Pellès Arbeit. Gegen den Titelverteidiger brachte der robuste Angreifer die Weltklasseverteidiger Ramos und Piqué zur Verzweiflung, schuf Räume für das nachrückende Mittelfeld, legte immer wieder den „zweiten Ball“ auf. Das Wissen um geleistetes Teamwork scheint den 30-Jährigen auch vor dem Tor zu befreien. Seine Abschlüsse waren hochkarätig, allein Spaniens Keeper David De Gea sorgte dafür, dass Pellè erst in der Nachspielzeit traf – per Volleyschuss, wie schon gegen Belgien, als er ebenfalls nach der 90. Minute den 2:0-Endstand besorgte. „Pellè ist Contes gewonnene Wette“, lobt „La Repubblica“.

Als Kind kickte er auf der Straße mit Äpfeln und Birnen

Als ihn der Nationaltrainer vor knapp zwei Jahren für die Auswahl entdeckte, kannten ihn selbst viele Italiener nicht. Wie Antonio Conte kommt Pellè aus der Provinz Lecce in Apulien, und wie der Coach hat er viel Temperament. „Meine italienischen zehn Minuten“ nannte er mal Ausbrüche wie jenen als Spieler von Feyenoord Rotterdam, als er gegen eine Fernsehkamera trat und dem Interviewer ein „Ajax-Gesicht“ beschied.

Ganz am Anfang seiner Fußballerzeit kickte er auf der Straße mit Äpfeln und Birnen. Während sein Vater, ehemaliger Drittligaspieler, als Kaffee-Vertreter von Bar zu Bar fuhr, brachte ihn der Großvater zum Fußballtraining. Abends ging die Familie zum Tanzen. Als Graziano elf war, gewann er zusammen mit Schwester Fabianna die italienische Jugendmeisterschaft seiner Altersklasse in den Disziplinen Standard und Latein. Woher trotz bulliger Figur die Eleganz seiner Bewegungen kommt, ist also unschwer zu erraten. „Für einen großen Stürmer bewege ich mich sehr leicht“, sagt Pellè. „Aber die ganzen Wechsel zwischen Fußball und Tanzen, die verschiedenen Schuhe, das machte mich fertig, vom Training ganz zu schweigen“. Er entschied sich für den Fußball.

Pellès großes Vorbild war Marco van Basten

Pellès großes Vorbild war Marco van Basten, insofern passt es natürlich, dass seine Karriere ohne die Niederlande nicht denkbar ist. Als er schon ein paar Einsätze für Lecce sowie diverse Ausleihen in die Zweite Liga hinter sich hatte, wurde er 2007 bei der U-21-EM von Louis van Gaal entdeckt. Bei AZ Alkmaar wurde Pellè zum Bestandteil von dessen Sensationsmeisterelf, doch während die dem Trainer einen Job bei Bayern München eintrug, fiel der Stürmer bei dessen Nach-Nachfolger Gertjan Verbeek in Ungnade. Er wechselte nach Parma, das ihn schon nach einem halben Jahr zu Sampdoria Genua weiterverlieh. Die Geschichte vom Scheitern in Italien wiederholte sich – die von der Erlösung in den Niederlanden aber auch. Er kam zu Feyenoord, schoss dort 50 Tore in 57 Spielen, und als Trainer Ronaldo Koe­man 2014 zu Southampton wechselte, nahm dieser ihn gleich mit.

In England überraschte er dann nicht nur durch seine Tore, sondern auch durch das Selbstbekenntnis als Vertreter der alten Schule. Dem „Guardian“ sagte er in einem Interview: „Besonders Italiener waren mal bekannt als Menschen mit Charme, Stil und Klasse.“ Früher habe ein Mann bei einem Date in die Augen der Frau geschaut und nicht aufs Smartphone. „Ich wünschte, diese Tage kämen zurück. Heutzutage gucken alle stumpfe Realitysoaps oder leben nur noch in den sozialen Netzwerken.“ Ironischerweise lernte er seine Model-Freundin Viktoria Varga allerdings selbst über eine Facebook-Recherche kennen, nachdem sie ihm in einem Modeheft aufgefallen war.

Nach seinen starken Auftritten wird Pellès Biografie jetzt als Vorbild für junge Italiener in der Wirtschaftskrise gefeiert, die auch ihr Glück jenseits der Grenzen suchen müssen. „Aber Italien bleibt ein wunderbares Land“, wandte der Stürmer nach dem Sieg gegen Spanien ein. Eines, das er am Sonnabend glücklich machen soll wie einst Riva und Rivera. Kann Italien sogar das Turnier gewinnen? „Alles ist möglich“, antwortete Pellè. Sein Leben ist dafür sicher ein schlagender Beweis.