Évian-les-Bains. Gegen Italien sind defensive Qualitäten gefordert. Kehrt deshalb Höwedes zurück?

Eigentlich ist Joshua Kimmich immer noch sauer. Sauer auf Manuel Neuer. „Wegen Tennis“, raunt Kimmich. Gespielt hatten sie vor ein paar Tagen, als der Bundestrainer fußballfreie Zeit angeordnet hatte, und offenbar waren die Vorkommnisse auf dem Court nahe dem Mannschaftsquartier in Évian-les-Bains nicht nach dem Geschmack des 21-Jährigen. Wirklich wütend war Kimmich natürlich nicht, aber selbst im Spaß sauer sein zu dürfen auf eine weltweit anerkannte, neun Jahre ältere Torhüter-Institution ist ein Recht, das nicht jeder für sich beansprucht. Kimmich schon.

Es hilft, dass die beiden sich aus dem täglichen Leben des FC Bayern kennen. Und trotzdem gehört ein gewisses Selbstvertrauen dazu, so etwas als Jungspund im Rahmen der Nationalmannschaft zu äußern. Dies gehört zu diesem Kimmich wie zu wissen, wann es angebracht ist, den Ball flach zu halten. Nach seinem ersten Einsatz bei dieser EM gegen die Nordiren ist er mit dem zurückgetretenen Weltmeister-Kapitän Philipp Lahm verglichen worden. Das ging ihm dann doch zu weit. „Das macht wenig Sinn“, sagte er, „Philipp war über Jahre hinweg der beste Außenverteidiger der Welt, und bei mir war es ein Spiel.“ Weil er seine Sache aber gut gemacht hatte, durfte er ein zweites Mal von Anfang an ran – und das wiederum wirft die Frage auf, wie es vor diesem Viertelfinale gegen Italien um die Besetzung der rechten Abwehrseite steht. Spielt Kimmich? Oder doch sein Schalker Konkurrent Benedikt Höwedes?

Nach zwei Spielen hatte der eine den anderen ablösen dürfen, um der Offensive mehr Dynamik zu verleihen. Ein Plan, der aufging. Der aber nicht in Stein gemeißelt scheint. Bundestrainer Joachim Löw will von Fall zu Fall entscheiden, je nachdem, was er braucht: Den offensiven Kimmich, der die Linie hinunterläuft, der flankt, passt, trickst, Löcher reißt? Oder den defensiven Höwedes, der fast nie entscheidende Fehler macht, der mit seiner Kopfballstärke ein wichtiger Faktor sowohl in der Defensive als auch in der Offensive ist? Löw sagt: „Wir müssen unsere Stärken ins Spiel bringen.“ Kimmich war eine spielerische Stärke. Löw warnt aber auch: „Das sind nicht die Italiener, die man normalerweise kennt. Sie spielen nicht nur defensiv, sondern auch sehr, sehr gut nach vorne.“ Da hilft Höwedes.

Kimmich besuchte das Internat des VfB Stuttgart, ging auf Reisen mit der Jugend-Nationalmannschaft, legte in der Zeit sein Abitur mit der Note 1,7 ab. Genauso zielstrebig und diszipliniert spielt er Fußball. Mit seinen 21 Jahren wirkt er erstaunlich abgeklärt, selbst als ihn Trainer Pep Guardiola in München zum Innenverteidiger umfunktionierte. Eine Prüfung, deren Stoff er nie durchgenommen hatte. Er wusste nicht, wie es ist, sich in der Champions League gegen die Stars von Juventus Turin zu behaupten. Er machte das beachtlich, produzierte aber auch Fehler. Die sind Sonnabend untersagt. Erstes Gebot ist es, nicht in Rückstand zu geraten. Spielt er, wäre es Kimmichs Reifeprüfung.

Bislang ist die Nationalmannschaft im Turnier noch ohne Gegentreffer. Das bedeutet, dass die Abläufe funktionieren. Fraglich deshalb, ob Löw das bestehende Konstrukt einreißt und als defensive Dreierkette (dann vermutlich mit Kimmich und Höwedes) wieder aufbaut. In dieser taktischen Formation hatte die Nationalelf im Frühjahr einen beeindruckenden Sieg gefeiert. 4:1. Gegen Italien.