Évian-les-Bains. Der Bundestrainer hat bislang so wenig Spieler wie noch nie eingesetzt. Die sieben Bankdrücker könnten aber noch wichtig werden. Wirklich?

Das hübsche, aber gemeine Wort Nullinger hat ein kleines Problem. Es ist gar kein Wort. Zumindest kein offizielles, das der Duden kennt. Nun kann (oder muss) man dieses Versäumnis natürlich dem Duden vorwerfen, der in seiner Online-Ausgabe auch noch dreist fragt, ob man nicht eigentlich das Wort Trollinger (eine spät reifende Rebsorte) meint. Meint man aber selbstverständlich nicht. Gemeint ist vielmehr ein Fußballer, der nicht eine Minute beim Turnier spielen darf, der somit null Einsätze bekommt. Ein Nullinger also.

In Frankreich im Lager der deutschen Nationalmannschaft gibt es gleich eine ganze Reihe von Exemplaren dieser Sorte. So durften insgesamt sieben Spieler trainieren wie die Teufel, aber keine Sekunde das Geprobte im Ernstfall anwenden. Die Ersatztorhüter Bernd Leno und Marc-André ter Stegen natürlich, deren Schicksal allerdings wenig überraschend ist. Dass auch der nachnominierte Jonathan Tah noch nicht zum Einsatz kam, genauso wenig wie Ersatz-Außenverteidiger Emre Can und der immer fröhliche Lukas Podolski, verblüffte auch niemanden. Thomas Tuchels Mittelfeld-Passmaschine Julian Weigl hätten dagegen einige Experten sehr wohl ein paar Minuten in der Vorrunde zugetraut, Schalkes Leroy Sané sogar die halbe Fußballnation. Vielleicht sogar die ganze.

Besonders Sané darf sich noch Hoffnungen machen

„Leroy hat seine Qualitäten. Er kann den Gegner mit seiner Schnelligkeit überraschen“, sagt Co-Trainer Marcus Sorg am trainingsfreien Donnerstag, als er und sein Assistenztrainerkollege Thomas Schneider anstelle von Chefcoach Joachim Löw dieser Nation beantworten müssen, warum denn der Sané nicht spiele. „Ich bin mir sicher, dass jeder der Spieler, die noch nicht gespielt haben, in einem Moment noch mal da sein wird und seine Chance bekommen wird“, beschwichtigt also Sorg im großen Pressezelt von Évian-les-Bains. „Wichtig ist nur, dass Leroy bei uns im Training seine Leistung bringt.“

Die bringt er. Doch ob und wann der Noch-Schalker, der sich dem Vernehmen nach noch während der EM zwischen Pep Guardiolas altem (Bayern München) und neuem (Manchester City) Verein entscheiden will, seine Leistung auch im Spiel bringen darf, bleibt ungewiss. Eines will Co-Trainer Schneider aber noch loswerden: „Wir müssen die Jungs nicht bei Laune halten. Sie wissen, dass sie eine große Wertschätzung bei uns erfahren.“ Sané und Co. seien wichtig für den Teamerfolg, auch wenn sie nicht spielen. Und überhaupt: „Die Jungs werden noch ihre Momente bei diesem Turnier haben.“

Schneider war selbst ein Nullinger, eine ganz besondere Sorte sogar. Der heutige DFB-Assistenztrainer war zwar nie bei einem Turnier, wurde von Bundestrainer Berti Vogts aber dreimal zu Länderspielen eingeladen. 1996 durfte er gegen Nordirland und Armenien auf der Bank sitzen, 1997 war er im Kader gegen die Ukraine. Für Deutschlands A-Nationalelf gespielt hat Schneider nie.

Doch hat Schneider nun recht? Können die bislang noch nicht eingesetzten Spieler sogar noch zu einem wichtigen Faktor für den Weltmeister werden? Oder hält Bundestrainer Löw seinen Kader sogar bewusst klein?

Viele Fragen, wenige Antworten. Sicher ist nur, dass es keine neue Entwicklung ist, dass nicht jeder in einem 23er-Kader bei einem Turnier zum Einsatz kommen kann. Bei der EM 2008 waren es vier Profis, bei der EM 2012 waren es sogar sechs. Die bekanntesten Exemplare der Nullinger im deutschen Fußball sind ohne Zweifel Günter Hermann, Frank Mill und Paul Steiner, die allesamt beim WM-Triumph 1990 nicht wirklich mittendrin, sondern nur dabei waren. Beim WM-Sieg 2014 traf es von den Feldspielern Matthias Ginter, Kevin Großkreutz und Erik Durm. Damals, vor zwei Jahren, nannte Joachim Löw die Bankdrücker „Spezialkräfte“. Auch Christoph Kramer, der ebenfalls in der Vorrunde die Ersatzbank nicht verlassen sollte, durfte sich seinerzeit angesprochen fühlen.

Der löwsche Fachbegriff, der es schon längst ins Fußballmuseum nach Dortmund gebracht haben müsste, passte bestens zum gerade von Leverkusen zurück nach Gladbach gewechselten Mittelfeldmann. Kramer wurde im Achtelfinale in den letzten zwölf Minuten der Verlängerung gegen Algerien und im Viertelfinale in der 90. Minute gegen Frankreich eingewechselt, um die knappen Siege über die Zeit zu bringen. Erst im Finale durfte er für den angeschlagenen Sami Khedira von Anfang an auflaufen, ehe er angeknockt nach 32 Minuten für „Spezialkraft“ André Schürrle ausgewechselt wurde. „Ganz zum Schluss geht es um den Mannschaftserfolg“, erinnert noch einmal sehr eindringlich Löws Spezialkraft Sorg. „Und wenn im letzten Spiel einer 30 Sekunden spielt und so gut vorbereitet ist, dass er den Ball noch von der Linie kratzt und das zum Sieg reicht, ist alles gut.“ Tatsächlich ist es gar nicht schlecht, wenn man als Trainer auf Spezialkräfte zurückgreifen kann. Bei dieser EM wurde rund ein Fünftel aller Treffer durch Einwechselspieler erzielt. Vor vier Jahren lag die Quote gerade mal bei 13,2 Prozent. Dank Bastian Schweinsteiger, in Frankreich ohne Frage auch so eine Spezialkraft, liegt die Quote im deutschen Team sogar bei rekordverdächtigen 33 Prozent.

„Als Trainer geht einem das Herz auf, wenn man sieht, wie die Spieler sich engagieren und reinhauen, die nicht wirklich viel zum Einsatz kommen“, lobt also Sorg am Donnerstagvormittag, ehe er gemeinsam mit Löw und Schneider darüber brüten will, ob und welche Spezialkräfte möglicherweise ihren großen Einsatz am Sonntag (18 Uhr/ZDF) in Lille gegen die Slowakei haben könnten. Und vielleicht hat ja sogar der Duden ein bisschen recht mit seinem Vorschlag: Im restlichen Turnierverlauf können spätreifende Exemplare durchaus von Nutzen sein.