Bordeaux. Titelverteidiger Spanien ignoriert nach der 1:2-Niederlage gegen Kroatien Anzeichen von Schwäche

Schwacher Trost, dass letztlich doch einer von Real Madrid das Spiel entschied. Dabei war der angeschlagene Luka Modric gar nicht mal mit von der Partie. Erst als sich sein Vereinskollege Sergio Ramos beim Stand von 1:1 den Ball zur Ausführung eines Elfmeters schnappte, trat er auf den Plan und vermittelte von der Ersatzbank aus über Kapitän Dario Srna seine Einschätzung an Torwart Danijel Subasic: „Lange stehen bleiben und dann leicht nach rechts“. Ramos tat wie vermutet, Subasic wie ihm geheißen, und Kroatien blieb im Match, das es durch ein Tor des überragenden Ivan Perisic drei Minuten vor Schluss entschied. Womit vielleicht nicht die Fußballwelt auf den Kopf gestellt wurde, aber doch dieses Turnier.

Spanien gesellte sich durch dieses 1:2 und dem vergebenen Gruppensieg nämlich nun zum Rest der kontinentalen G5 in dieselbe Hälfte des EM-Tableaus. Deutschland, Frankreich und England können bis zum Halbfinale folgen, fürs erste steigt am Montag die Wiederauflage des letzten Endspiels gegen Italien. Kein Problem, so Ramos: „Um Champion zu werden, muss man die Besten schlagen“, tönte er. „Es warten große Teams, aber das ist Spanien auch“, sekundierte Andrés Iniesta.

Sollte er aber vielleicht lieber haben. Die Euphorie der letzten Tage hat jedenfalls nicht wirklich weitergeholfen. Spanien war gegen Kroatien immer noch in „Eurodisney“, wie ein „Marca“-Kolumnist anmerkte. Warum Innenverteidiger Ramos die Ausführung des Elfmeters den dafür eigentlich besser geeigneten Kollegen wie Cesc Fàbregas oder Andrés Iniesta („Ich wollte schießen, aber Sergio fühlte sich stark“) abschwätzte, war ja nur eine der Fragen, die den Beobachter erstaunt zurücklassen konnten: dass ein Kapitän seine Hybris über die Interessen des Teams stellt, ist kein gutes Zeichen. Weitere Rätsel: dass Rechtsverteidiger Juanfran in der 87. Minute aufrückte, als bräuchte Spanien noch zwei Tore, und so Perisic erst die Autobahn zum Siegtor freiräumte. Oder der laxe Zugang in der Anfangsphase, als die Führung von Morata nach einer herrlichen Kombination eher entgegen des Spielverlaufs fiel. Und nicht zuletzt die Unfähigkeit, eine realistische Bewertung des Geschehens vorzunehmen. Wie auf Autopilot beteten die Spanier herunter, dass „wir das Spiel kontrollierten“ (Nolito) und „sie uns mit einer ihrer wenigen Chancen besiegten“ (Ramos). In Wirklichkeit war Kroatien gleichwertig.

Die Parallelwelt der „selección“ beschränkt sich aber nicht auf den Fußball. Am Sonntag wird in Spanien zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres gewählt. Zwei der wichtigsten Kandidaten haben sich auch zur Nationalelf geäußert. Pedro Sánchez, Chef der Sozialisten, und Pablo Iglesias, Anführer der Basisbewegung Podemos, versuchten allerdings nicht, auf irgendeine Patriotismuswelle aufzuspringen, sie erhoben nachdenkliche Worte. Sánchez sagte, er fühle sich „nicht wohl“, wenn er Torwart David De Gea die spanischen Farben vertreten sehe, „nachdem sein Name (in der ‚Kuppler-Affäre’, d. Red.) von einer Minderjährigen befleckt und angezeigt wurde“.

Bei der spanischen Nationalmannschaft finden solche Sorgen jedoch keine Entsprechung. Natürlich, De Gea, der die Vorwürfe bestreitet, ist bislang nicht angeklagt. Aber die juristische Seite ist ja nur das eine, die moralische eine andere. Frankreich hat den ebenfalls nicht verurteilten Karim Benzema für die EM außen vor gelassen. Bei Spanien hingegen wurde De Gea just drei Tage nach Bekanntwerden der Vorwürfe erstmals zum Stammkeeper befördert. War das wirklich nötig?

Trainer del Bosque spricht von Demut – genau das fehlt

Das wird nun auch unter sportlichen Gesichtspunkten debattiert, denn De Gea ließ Perisics leicht abgefälschten Schuss im Torwarteck passieren und hatte zuvor schon einmal den Ball an den bärenstarken Ausgleichsschützen Nikola Kalinic vertändelt sowie am selben Spieler einen – nicht gepfiffenen – Elfmeter verursacht. So oder so steht sein Einsatz dafür, dass hier eine Mannschaft ihre Vorbildfunktion verloren hat, die sei zu ihren großen Zeiten ja tatsächlich hatte.

Del Bosque spricht immer noch gern von „Demut“. Doch seine Spieler fallen plötzlich durch geschundene Elfmeter auf wie David Silva vor dem Ramos-Lapsus, durch patzige Klagen über das Reservistendasein wie Pedro Rodríguez („So hat es keinen Sinn, hierher zu kommen“) oder durch Spott gegenüber Journalisten, die solche Äußerungen thematisieren, wie von Gerard Piqué („Euch ist wohl langweilig“). Der katalanische Innenverteidiger wurde bei der Hymne erwischt, wie er seinen Mittelfinger (nach unten) ausstreckte. Zumindest den Vorwurf des Vaterlandsverrats konnte er glaubhaft entkräftigen. „Ich kreuze mir nur die Finger“, twitterte er. „Suchen wir doch keine Polemik, wo es keine gibt, und versuchen alle zusammen die EM zu gewinnen.“

Der Weg dorthin wird nach Spaniens erster EM-Niederlage seit 2004 nicht einfacher. Eine Rückkehr der Demut könnte womöglich helfen.