Évian-les-Bains. Die deutsche Nationalmannschaft hat die Gruppenphase solide gemeistert, aber nun folgt die wohl härteste K.-o.-Phase einer EM

Es herrschte große Ungewissheit. Das sei alles „sehr kompliziert, auch für mich“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. „Ich blicke da irgendwie nicht durch“, gestand Sami Khedira. Deutschland steht im EM-Achtelfinale, so viel war nach dem 1:0 gegen Nordirland sicher. Aber wie das Turnier weitergeht, das wussten sie auch am Tag danach nicht so genau bei der deutschen Elf. Dabei ist das ganz einfach: Jetzt geht es erst richtig los.

Löws Team hat die Gruppenphase mit sieben Punkten souverän gemeistert, was angesichts des verwässerten Turniermodus mit 24 Teilnehmern aber niemanden zu euphorisieren braucht. Der Prolog ist verlesen. Jetzt schwingt der Vorhang zum echten Schauspiel auf. Im Achtelfinale in Lille wartet die Slowakei (So, 18 Uhr). Und der Weg, der sich bei einem Sieg von dort für das deutsche Team auffächert, könnte kaum steiler sein: Bereits im Viertelfinale (2. Juli in Bordeaux) warten Spanien oder Italien. Es ist also an der Zeit, zu überprüfen, ob Löws Team die Erwartungen bisher erfüllt hat und wo Steigerungsbedarf besteht, um den Weg bis zu Ende gehen zu können.

Erwartung 1: Deutschland unterhält die beste Offensive Europas, aber auch eine der verschwenderischten. Überprüfung: vielleicht und ja. „Ich bin nicht zufrieden mit der Chancenauswertung“, sagte Löw nach dem 1:0 gegen Nordirland, das die wahren Kraftverhältnisse unterschlug. Khedira sprach von einer Mischung aus „nicht kompletter Entschlossenheit, Unsicherheit und Pech“. Nur drei Tore in drei Spielen – so wenige wie nie unter Löw bei einem Turnier in der Vorrunde.

Sinnbildlich für die eigentlich vorhandene Qualität, aber auch den mangelnden Ertrag ist Thomas Müller: Immer noch wartet der Münchner auf sein erstes Turniertor und vergab zahlreiche Chancen gegen Nordirland. „Ich mache mir keine Sorgen. Wenn er keine Chancen gehabt hätte, würde ich mir ein paar Gedanken machen“, sagte Löw zwar. Aber auch er weiß, dass sein Team einen Müller auf Topniveau braucht, um in der entscheidenden Phase bestehen zu können. Dass ihm mit Mario Gomez wieder eine echte Sturmalternative zur „falschen Neun“ Mario Götze zur Verfügung steht, kann im weiteren Turnierverlauf noch sehr wichtig werden. Deutschlands Abteilung Attacke hat bisher noch nicht voll überzeugt – vor allem gegen Polen hatte sie Beißhemmungen. Aber es besteht Hoffnung.

Erwartung 2: Defensiv könnte Deutschland Probleme bekommen. Überprüfung: Das Gegenteil ist der Fall. Dabei hatte dem Bundestrainer kaum etwas derart große Sorgen in der Zeit zwischen der WM und der EM bereitet wie die defensive Grundordnung – trotz der Weltklasse-Innenverteidigung mit Jerome Boateng und Mats Hummels. 26 Gegentore in 20 Spielen klangen alarmierend, dazu die Dauerdiskussion um die Besetzung der Außenverteidigung. Es kam anders: Die Vorrunde endete erstmals unter Löw ohne Gegentor.

„Dreimal zu null zeigt, dass wir vorangekommen sind, wir waren in den Qualifikationsspielen noch viel verwundbarer“, lobte Müller. Dabei ist nicht nur das Abwehrzentrum mit Boateng und Hummels ein entscheidender Faktor für die neue Stabilität made in Germany. Besonders das im Vergleich zur WM modifizierte Spiel von Exportschlager Toni Kroos tut dem Weltmeister gut. „Vielleicht spiele ich fünf Meter weiter hinten als bei der WM, etwas defensiver, um unser Aufbauspiel so sicher und gut wie möglich zu machen“, erklärte Kroos. Anders als in der Qualifikation und in den Testspielen schafft es Löws Mannschaft zudem, unnötige Standardsituationen zu vermeiden. Genau mit diesem Mittel schlug der mögliche Achtelfinalgegner Slowakei Deutschland vor knapp einem Monat mit 3:1. Vergangenheit. Im Hier und Jetzt hat kein Team defensiv so überzeugt wie der Weltmeister.

Erwartung 3: Löw entwickelt das Team auch nach dem Triumph von Rio weiter. Überprüfung: Das ist bisher noch nicht zu erkennen. Die Weiterentwicklung der Mannschaft habe vor allem in der taktischen Variabilität stattgefunden, hatte Löw vor dem Turnier gesagt. Sein Team könne jetzt viele Formationen spielen und zwischen ihnen auch während einer Partie wechseln.

In Frankreich ist davon noch nichts angekommen: Löw ließ stets im klassischen 4-2-3-1-System agieren. Die seit Rio mehrfach einstudierte Dreier-Abwehrkette wird aber im Verlauf des Turniers noch gebraucht, wenn stärkere Gegner mit einer Doppelspitze wie Italien warten. Erst dann wird man vielleicht erkennen, was Löw meinte, als er sagte, er brauche bei der EM zwei verschiedene Mannschaften: eine für die Vorrunde und eine für die K.-o.-Phase. Ob er die Mannschaft tatsächlich weiterentwickelt und nicht nur verwaltet hat, wird sich erst dann zeigen.

Erwartung 4: Mit „Fußballzwergen“ wie Island, Albanien oder Ungarn wird der Weg ins Finale so leicht wie noch nie. Überprüfung: ein eindeutiges Nein. Nach dem mutmaßlich einfachen Achtelfinale sieht die Uefa-Arithmetik eine weltmeisterliche K.-o.-Phase vor. „Ich habe es vor dem Turnier gesagt, dass die ersten vier Spiele zäh werden. Aber irgendwann werden die Gegner auch selbst mal was machen müssen gegen uns“, sagte Löw, der zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht ahnte, wie recht er tatsächlich hatte. Denn: Im Viertelfinale wartet auf Deutschland so oder so ein Angstgegner: Italien oder Spanien. „Jetzt beginnt ein neues Turnier“, sagte Gomez. In einem möglichen Halbfinale droht dann Gastgeber Frankreich, alternativ könnte es auch zum Fußballklassiker mit England kommen.

Die Uefa hat daran übrigens nicht Schuld. Denn nach überraschenden Vorrundenspielen gehören Deutschland, Italien, Frankreich und auch die Gruppenzweiten Spanien und England in die eine Spielplan-Hälfte, in der sie auf dem Weg nach Paris aufeinandertreffen können. Diese Teams haben zusammen elf WM-Titel und neun EM-Titel. Wales, Polen, Kroatien oder die Schweiz machen auf der anderen Hälfte den Weg ins Finale unter sich aus. WM- und EM-Titelsammlung: null. Und null.