Paris. Der Münchner Joshua Kimmich überzeugt als Rechtsverteidiger und weckt Hoffnungen

Neulich musste Joshua Kimmich vortanzen. Solo. Und die Mannschaft schaute zu. Es war der Initiationsritus für den 21-Jährigen, der kurz vor dieser EM sein erstes Länderspiel gemacht hatte. Normalerweise müssen Debütanten eine Rede halten. Manche dürfen auch eine Schnulze singen – wie Christoph Kramer auf der Fähre bei der WM 2014 in Brasilien. Kimmich aber bewegte stattdessen die Hüften, als die deutsche Nationalelf vor zwei Wochen den Tanz-Club Ludwigsburg zu sich ins EM-Quartier nach Evian einlud und eine Lehrstunde bekam. Er soll sich recht gut dabei angestellt haben.

Am Dienstagabend im Pariser Prinzenpark musste Joshua Kimmich erneut vortanzen. Nicht solo, sondern unter Führung von ein paar erfahrenen Partnern. Aber die ganze Welt schaute zu. Es war zudem ein Tanz, den der Münchner zuvor noch nicht allzu oft einstudiert hatte. Dass er sich auch hier mächtig gut anstellte, ist die Entdeckung des letzten EM-Gruppenspiels der deutschen Mannschaft gegen wackere Nordiren, das 1:0 (1:0) endete.

Kimmich, eigentlich gelernter defensiver Mittelfeldspieler, spielte rechts in der Viererkette und – so viel Euphorie in einer ansonsten ziemlich kühl runtergespielten Partie der DFB-Auswahl darf sein – war der auffälligste Spieler auf dem Platz. Seine Flanken und Angriffseinleitungen hätten allein zwei, drei Tore zur Folge haben dürfen. Aber weder der unglückliche Thomas Müller noch Mario Götze nutzten die servierten Aufforderungen. „Ich habe Jo sehr gut gesehen. Er hat gute Wege gemacht und für sehr gute Flanken gesorgt. Er hat nach vorn viel Bewegung gebracht und hinten viele Bälle gewonnen“, lobte Joachim Löw.

Der Bundestrainer hatte sich in den ersten beiden Turnierspielen zunächst für den Schalker Benedikt Höwedes als Rechtsverteidiger entschieden, der zwar defensiv immer gute Gründe dafür liefert, aber offensiv nun mal auch immer ziemlich hüftsteif agiert. Das hatte zur Folge, dass das deutsche Angriffsspiel eine unvorteilhafte Linkslastigkeit bekam – denn Höwedes wurde im Spiel nach vorn von seinen Kollegen stets gemieden.

Gegen die tief stehenden Nordiren wollte Löw aber Außenverteidiger aufbieten, die wie Außenstürmer denken – und Kimmich zeigte Raffinesse und Genauigkeit bei Flanken. „Der Plan ging auf“, sagte Toni Kroos nach der Partie. Etwas euphorischer lobten Kimmich andere Mitspieler: „Er hat das super gemacht – ganz stark“, schwärmte Mesut Özil, der die etwas gewöhnungsbedürftige Man-of-the-Match-Trophäe, die ihm nach dem Spiel überreicht wurde, auch an Kimmich hätte übergeben können. Sogar Höwedes sagte: „Jo hat ein Klassespiel gemacht. Es war die richtige Entscheidung vom Trainer. Wir müssen uns alle dem großen Ganzen unterordnen.“

Löw hat manches Mal in den vergangenen beiden Jahren seit dem WM-Triumph an Philipp Lahm gedacht. Aber dass der ehemalige Kapitän seinen Rücktritt nicht revidieren würde, wusste er auch. Und deshalb begab sich der 56-Jährige auf eine landesweite Suchaktion nach einen Lahm-Nachfolger. Allerhand auf dieser Position ungelerntes Personal probierte er aus: Sebastian Rudy, Emre Can, Antonio Rüdiger und Matthias Ginter. Keiner war wie Lahm.

Kimmich hat kürzlich verraten, dass er sich zuletzt ein paar Videos von diesem Lahm auf YouTube angesehen habe, um zu verstehen, wie der das macht – vorn ebenso stark zu sein wie hinten. Und auch wenn Nordirland bei allem Respekt kein Gratmesser für den Weltmeister auf dem Weg zum erhofften EM-Titel sein darf, dann war Kimmichs Auftritt der lahmmäßigste seit Langem in Löws Elf.

Das ist deshalb erstaunlich, weil Kimmich vor einem Jahr noch in der Zweiten Liga für RB Leipzig spielte, und nach seinem Wechsel zum FC Bayern für acht Millionen Euro bei erstaunlichen 35 wettbewerbsübergreifenden Pflichtspielen kaum rechts in der Viererkette zum Einsatz kam.

Sein allererster Auftritt in der Nationalelf verlief für Joshua Kimmich nicht besonders berauschend: Beim Vorletzten EM-Test gegen die Slowakei Ende Mai (1:3) war er an zwei Gegentoren mitschuldig. Nun geht es im EM-Achtelfinale am Sonntag in Lille sehr wahrscheinlich wieder gegen die Slowakei, und Kimmich wird wohl eine weitere Chance rechts hinten bekommen. „Die Slowakei spielt auch sehr defensiv, da brauchen wir Spieler, die in die Tiefe gehen“, sagte Löw.