Toulouse. Während Wales den Gruppensieg feiert, fragt sich Russland, wie es die Heim-WM 2018 überstehen soll

Es ist ein passender Zufall, dass der Modesong der walisischen Fans vor allem wegen eines Franzosen populär wurde. Zur Melodie der Country-Trash-Arie „Achy breaky heart“ von Billy Ray Cyrus (Vater von Miley) feiern die Anhänger von West Ham United ihren Spielmacher Dmitri Payet als „better than Zidane“. Während die Franzosen das Lied für den neuen Nationalhelden schon übersetzt haben, bevorzugen die Waliser die bodenständigere Version, mit der vor einigen Jahren bereits die Anhänger von Newcastle United glänzten: „Bring mich nicht nach Hause, bitte bring mich nicht nach Hause. Ich möchte nicht arbeiten. Ich möchte hier bleiben und das ganze Bier austrinken.“

Letzteres war am Montagabend in Toulouse wegen der strikten Sicherheitsmaßnahmen schwieriger als sonst, aber wer mehrere Generationen auf eine Turnierreise mit seiner Nationalmannschaft warten musste, der lässt sich von Petitessen wie geschlossenen Straßencafés noch lange nicht abschrecken. Die Kehlen blieben also auch spät in der Nacht noch gut geölt, denn es gab ja einiges zu feiern. Wales muss nicht nach Hause. Wales gewann durch das 3:0 gegen Russland sogar die Vorrundengruppe B.

Als im Stadion die Abschlusstabelle eingeblendet wurde – Wales vor England! – schwoll der Jubelorkan noch mal um eine Stufe an. Die Helden in Rot befanden sich da schon auf ihrer x-ten Ehrenrunde. Manche Fans weinten vor schierer Fassungslosigkeit. Im Fernsehstudio stockte Ex-Nationalspieler Craig Bellamy die Stimme, als an den 2011 wegen Suizid verstorbenen Ex-Auswahltrainer Gary Speed erinnert wurde. Zwei andere Waliser Legenden, John Hartson und Robbie Savage, posteten ein Video von ihrer Taxiheimfahrt. Akkreditierung noch um den Hals grölten sie, na klar: „Don’t take me home ...“

Alle waren sie Teil einer schwarzen Legende aus 58 Jahren ohne Turnierteilnahme. Die entsprechenden Szenen in entscheidenden Spielen brannten sich tief ins Gedächtnis der Nation ein. Nun darf die Geschichte neu geschrieben werden. „Es ist unsere größte Nacht“, oder: „Es ist der größte Moment meiner Karriere.“ Solche Sätze waren oft zu hören, nicht nur von relativen No-Names wie Linksverteidiger Neil Taylor, der mit dem 2:0 sein erstes Tor erzielte, seit er vor sechs Jahren für den semiprofessionellen Wrexham FC traf. Auch von Trainer Chris Coleman, der feierlich sprach. „Als Nation sind wir klein. Aber wenn es um Leidenschaft geht, sind wir ein Kontinent.“

Coleman hob vor allem den Charakter hervor, den seine Spieler nach der unglücklichen Last-Minute-Niederlage gegen England gezeigt hätten. Daneben überraschte auch die Coolness einer Mannschaft, deren Vorgänger so oft an den eigenen Nerven gescheitert waren. Von den Russen wurden sie allerdings auch nicht wirklich bedrängt. Schon wie ungestört Gareth Bale immer wieder über das Feld galoppieren durfte, illustrierte ihre desaströse Vorstellung. Wie sich der Gastgeber der WM 2018 für sein Heimturnier noch in Stellung bringen will, dürfte sich auch der mächtige Sportminister Witali Mutko bei seinem Besuch in Toulouse gefragt haben. Es scheint an allem zu fehlen: Talent, Strategie, Ambition und vor allem Wettkampfhärte.

Fürs Erste übernahm Trainer Leonid Slutski die Verantwortung: „Ich möchte mich bei den russischen Fans für unsere Leistungen hier entschuldigen, das haben sie nicht verdient“. Die Schuld trage er, die Konsequenzen auch: „Nach solchen Leistungen braucht es einen neuen Trainer“, sagte er und machte dabei nicht den Eindruck, sich zu sehr an den heißen Stuhl des Nationaltrainers klammern zu wollen. Als Nothelfer nach dem teuren Missverständnis Fabio Capello engagiert, wird er sich nun auf seinen Job bei ZSKA Moskau konzentrieren.

Gegen Wales rannte sein langsames Team ins offene Messer und öffnete bereitwillig die Räume für die Ausnahmespieler Joe Allen, Aaron Ramsey und Bale, der sich mit seinem dritten Turniertor an die Spitze der Torschützenliste setzte. „Es gibt keine leichten Spiele, aber vielleicht jetzt ein etwas leichteres Spiel“, räsonierte der Star von Real Madrid über die Aussicht, als Gruppensieger gegen einen Dritten antreten zu dürfen. Wer es sein wird, ist Innenverteidiger James Chester egal. „Ich gehe dahin, wo man es mir sagt.“ Nur nach Hause natürlich nicht.