Évian-les-Bains. Wie der Bundestrainer die aufkeimende Diskussion um fehlende Persönlichkeiten beantwortet, beweist, wie ihn der WM-Titel verändert hat

Neben dem Trainingsplatz in Évian sind ein paar Fahnen an die Masten montiert worden: die deutsche und die französische zum Beispiel. Sie flackern am Sonntagmorgen im Wind hin und her, als die deutschen Fußballer nach einem freien Tag den Dienst wieder aufnehmen. Es ist ein frischer Wind, er kommt geradewegs aus der Heimat, aber er weht über Joachim Löw hinweg. Der Bundestrainer federt über den halben Platz, zielstrebig auf einen Gast zu: Lucien Favre. Handschlag, Umarmung, minutenlange Unterhaltung mit dem früheren Gladbacher Trainer. Zwei, die sich schätzen, sich verstehen. Das Training hat schon begonnen. Löw lächelt, als wäre nichts.

Früher hätte ihn vielleicht mehr bewegt, was da passiert ist nach dem scheinbar empörenden 0:0 gegen die Polen und vor dem Duell mit Nordirland in Paris. Er hätte es vielleicht ungerecht gefunden, als Verantwortlicher einer Mannschaft kritisiert zu werden, die bislang kein Gegentor kassiert und nicht verloren hat. Die Kritik war laut genug, dass sie auch am weit entfernten Südufer des Genfer Sees zu vernehmen war. Aber sie ficht Löw nicht an.

„Dieser Mannschaft fehlen ein bisschen Persönlichkeit und Charakter“, sagte der einstige Nationalmannschaftskapitän Michael Ballack als Experte des US-Senders ESPN. Schwups, war sie wieder in der Welt, die in Deutschland leidenschaftlich geführte Diskussion um Führungsspieler und ihr vermeintliches Fehlen. Auch Steffen Freund, Europameister 1996, kritisierte Löw für mangelhafte Leistungen des Teams. Die Aufregung ist mal wieder groß um Deutschlands beste Fußballer.

Die Turniererfahrung von mehr als einem Jahrzehnt hat die Macher der Nationalelf jedoch gelassen gemacht. „Alle zwei Jahre grüßt das Murmeltier“, sagt Oliver Bierhoff, der Nationalmannschaftsmanager. Im Murmeltier-Film wiederholen sich die Dinge täglich, in der schwarz-rot-goldenen Fußballgeschichte immer bei den großen Turnieren. „Die Experten sollen gerne diskutieren, wichtig ist, dass wir unabhängig davon die Situation einschätzen und wissen, was zu tun ist“, sagt Bierhoff.

Mit dem radikal entspannten Herrn Löw, der seiner Mannschaft am Sonnabend einen freien Tag gönnte, weiß er den richtigen Mann an seiner Seite. Er schien ob des Ballack-Vorwurfs nicht nur nicht aufgebracht, sondern geradezu belustigt zu sein. „Das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht“, sagte er und präzisierte, „diese Diskussionen haben wir auch bei der WM 2014 gehabt. Angeblich hatten wir keine Führungsspieler, dann holen wir den Titel, und alle waren Führungsspieler.“ Löw schmunzelt die Kontroversen einfach weg und verweist gelassen auf Spieler wie Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira, Jérôme Boateng, Thomas Müller, die sich im Sinne der Mannschaft einbringen. „Sie hinterfragen Dinge, kommen auf mich zu, wollen diskutieren“, berichtet Löw. Spätestens mit dem Weltmeister-Titel ist er zu einem Mann geworden, der in sich ruht. 2014 habe dem Trainer und den Spielern „noch mal Sicherheit und Bestätigung“ gegeben, sagt Bierhoff, „den Rucksack, keinen Titel geholt zu haben, haben sie schon mal abgelegt“. Befreit vom Ballast geht der Bundestrainer die Probleme an – und erinnert auch in anderen Fragen gern an das vergangene Turnier, das ebenfalls schleppend begann und im Achtelfinale gegen Algerien beinahe schon beendet gewesen wäre. Drei Spiele später war aus der vermeintlichen Trümmertruppe, die nicht einmal die lustigen Afrikaner vom Platz kombinieren kann, eine Mannschaft voller Helden geworden.

Löw und Bierhoff verwahren sich gegen dieses reflexhafte Schwarz und Weiß in der öffentlichen Wahrnehmung, das nach jedem weiteren Spiel über die Leistung gepinselt wird. Sie wissen um die Schwächen, die die Nationalelf sowohl offensiv als auch defensiv bisher präsentiert hat. Aber die Botschaft an Spieler und Nation ist: Auch wer um den Titel mitspielen will, darf sich auf dem Weg dahin auch mal kleine Schwächen erlauben. Der Manager spricht von einer speziellen „Dynamik in jedem Turnier“, zu der auch ergebnisorientierte Leistungen gehörten.

„Wir wollen und werden gegen Nordirland gewinnen und Gruppenerster werden. Dann geht es in Lille weiter, einen anderen Weg kenne ich nicht“, sagt Löw. Es ist ein Weg der Ruhe.