Kassel. Robert Harting meldet sich bei Leichtathletik-DM eindrucksvoll zurück. Sussmann kann für EM planen

Das Trikot blieb heil, aber der spontane Freudenausbruch des Robert Harting war schon wieder filmreif. Der Mann, der sich nach seinen großen Triumphen bei Weltmeisterschaften und den Olympischen Spielen 2012 das Nationalhemdchen zerriss, staunte bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Kassel ein wenig über sich selbst. Im letzten Versuch schickte Harting den Diskus auf die Siegesbahn. Nach 68,04 Metern schlug die zwei Kilo schwere Scheibe im Rasen ein. Erster Platz, der neunte Meistertitel für den Berliner und das sichere Ticket zu den Olympischen Spielen.

Aber es war alles andere als Routine, es war ein ganz besonderer Tag für Harting. Weil er so lange verletzt aussetzen musste. Weil er so sehr von der nationalen Konkurrenz gefordert wurde. Und weil er diesen ersten Platz dringend brauchte, um jetzt in aller Konzentration die nächste, noch viel größere Mission anzugehen: Im August will Robert Harting in Rio wieder Gold bei den Olympischen Spielen holen.

Als seine Siegesweite aufleuchtete, fasste sich Harting an den Kopf, ging in die Knie, haute mit seinen riesigen Händen euphorisch auf den Rasen und führte den 15.000 Zuschauern eine kurze Kostprobe des Schattenboxens vor. Nicht so schnell wie einst Muhammad Ali. Der kürzlich verstorbene Boxer bleibt immer der Größte, aber Harting bewies an diesem Sonntagnachmittag, dass er ein Großer ist. Sein Ausbruch der Emotionen zeigte auch, wie sehr er unter Druck stand. Nachdem er seinen Rivalen wieder einmal gezeigt hatte, wer der Herr im Ring ist, spürte er nur noch grenzenlose Erleichterung.

Vor seinem letzten Versuch hatte Harting mit 65,60 Metern nur auf dem zweiten Rang hinter seinem jüngeren Bruder Christoph (66,41) und vor dem Wattenscheider Daniel Jasinski (65,18) gelegen. Nicht schlecht, aber hätte er nicht gekontert, hätte Harting vor einem Problem gestanden. Da sich nur der deutsche Meister direkt für Rio qualifiziert, hätte er sich in den nächsten Wochen noch gegen die nationale Konkurrenz im Kampf um die zwei weiteren Fahrkarten streiten müssen.

„Vor dem sechsten Versuch waren die Bedingungen gut“, erzählte später Harting, „ich habe bemerkt, dass der Wind kommt. Ich wollte unbedingt in den Ring und das Ding machen.“ Gesagt, getan. Der Harting, wie er sich selbst nennt, ist zurück. Und wie hat er es wieder einmal hinbekommen, wie hat er es erneut geschafft, im richtigen Moment zu kontern? Harting schmunzelt und sagt dann: „Mir hat der Hintern geglüht. Ich brauche diese Bedrohung. Ich kann sie gut in Energie umformen. Das ist positives Adrenalin, das ist das beste Doping.“ Und erlaubt.

Harting hat eine lange Leidenszeit hinter sich. Im September 2014 riss er sich das Kreuzband und musste die komplette Saison 2015 zuschauen. „Ich habe das Karriereende schon gespürt“, sagte er am Sonntag. „Ich bin froh, diese zweite Chance erhalten zu haben.“

Der Olympiasieger wird nun in die konkrete Vorbereitung auf Rio einsteigen. Auf die EM in Amsterdam (6. bis 10. Juli) kann er verzichten. Wäre er nur Zweiter in Kassel geworden, hätte er sich mit seinen nationalen Rivalen (außer Robert haben auch Christoph Harting, Daniel Jasinski, Markus Münch und Martin Wierig die Olympianorm erfüllt) empfehlen müssen. „Ich brauche die Zeit jetzt, um an meiner Form zu arbeiten. „Ich bin noch wie ein Geländewagen“, sagte er, „zur Formel 1 fehlt mir noch ein wenig.“

Hussong wirft sich an die Spitze der Weltrangliste

„Wir haben ein Luxusproblem bei der Nominierung“, sagte DLV-Cheftrainer Idriss Gonschinska. Gleiches gilt für den Diskuswurf der Frauen, wo hinter der deutschen Meisterin Nadine Müller weitere fünf Athletinnen die Olympianorm erbracht haben.

Ihren ersten DM-Titel holte sich Speerwerferin Christin Hussong. Mit der Weltjahresbestleistung von 66,41 Metern gewann die WM-Sechste aus Zweibrücken vor Weltmeisterin Katharina Molitor (62,86 Meter). Bei den Männern überboten gleich fünf die 80 Meter, der Jenaer Thomas Röhler sorgte bei seinem Sieg mit 86,81 für eine der hochkarätigsten Leistungen. Auch Stabhochsprungmeisterin Martina Strutz überzeugte mit 5,70 Meter.

Als Gewinnerin konnte sich Jana Sussmann vom Lauf-Team Haspa-Marathon Hamburg fühlen. Beim beeindruckenden Sieg der Frankfurter WM-Dritten Gesa Felicitas Krause (9:31,00 Minuten) über 3000 Meter Hindernis wurde die 25-Jährige in 9:48,28 zwar nur Vierte. Ihr Glück aber: Die drittplatzierte Sanaa Koubaa (Leverkusen) verpasste in 9:48,07 die EM-Norm um sieben Hundertstelsekunden, sodass Sussmann an diesem Mittwoch für Amsterdam nominiert werden dürfte. Ihre Vereinskollegin Agata Strausa wurde über 5000 Meter in 16:07,39 Minuten Zweite – ihr Heimatland Lettland fordert für Rio 15:40,00.

Weitspringerin Nadja Käther vom HSV verpasste den Sprung nach Amsterdam. Bei ständig wechselndem Wind glückten ihr nur zwei gültige Versuche. Dem besseren, 6,53 Meter trotz 1,8 Meter pro Sekunde Gegenwind, fehlte nur ein Zentimeter zu Bronze. Die geforderten Weiten von 6,65 Meter (EM) beziehungsweise 6,70 (Olympia) übertraf nur Malaika Mihambo von der LG Kurpfalz. Ihre 6,72 Meter wurden allerdings von zu starkem Rückenwind (2,5 Meter pro Sekunde) begünstigt.