Évian-les-Bains. Der Coach des deutschen Teams will bei der EM mit der Mannschaft Historisches erreichen – Gelassenheit als Erfolgsgeheimnis.

Am Ortseingang stehen noch immer die großen, hölzernen Plakatwände, die 2014 nach dem Titelgewinn aufgestellt worden sind. „Schönauer Weltmeister! Wir sind stolz auf dich! Jogi Löw!“ Drei Ausrufezeichen. Joachim Löw fährt an ihnen vorbei, hinein nach Schönau, seine Heimat. Dort, wo die wuchtigen Kastanienbäume ihren Schatten auf das Kopfsteinpflaster werfen, parkt er sein Auto und geht nach oben. Oben - dort wohnt die Mama. Sie hat gekocht für ihren Joachim und seine drei jüngeren Brüder Peter, Markus und Christoph.

Es ist Montag, einen Tag, bevor der Bundestrainer seine Mannschaft zum Trainingslager in Ascona versammelt. Einen Tag, bevor die Zeit beginnt, in der Joachim Löw von den Ausmaßen einer Europameisterschaft vereinnahmt wird und seine Worte wieder von größerer nationaler Bedeutung zu sein scheinen als die von Angela Merkel.

Diese Zeit hat nun begonnen. Es ist das fünfte Turnier für Löw als Bundestrainer. Eines mit anderen Vorzeichen. Deutschland reist als Weltmeister an, Löw reist als Weltmeister an. Am kommenden Sonntag startet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft mit dem Spiel in Lille gegen die Ukraine (21 Uhr/ARD live) in das kontinentale Turnier, in dem Löw schon in der ersten Partie zum Rekordtrainer wird. Bis jetzt hat er elf EM-Spiele an der Seitenlinie begleitet, keiner hatte je mehr. Sieben sollen hinzukommen, dann hätte der 56-Jährige die Chance Historisches zu erreichen. Welt- und Europameister - das gelang in Deutschland nur Helmut Schön (1972 und 1974). Der Mann, den sie Jogi nennen, der eine mittelprächtige Vereinskarriere als Trainer hinlegte und schnell als zu nett galt, wäre nach seinem zehnten Jahr als Bundestrainer eine Legende. Diese Dekade Löw bliebe ewig in Erinnerung.

Joachim Löw sitzt jetzt oberhalb des Genfer Sees, wo die Deutschen ihr EM-Quartier aufgeschlagen haben. Der Bundestrainer lehnt sich in seinem Schwingstuhl zurück. Gerade hat sein Vorgesetzter, Verbands-Präsident Reinhard Grindel, einen Sitzplatz weiter berichtet, was der Deutsche Fußball-Bund in welcher Runde des Turniers erwirtschaften wird. Viele Millionen Euro schwirren durch den Raum. Löw nippt an seinem Espresso, der ihm gerade gebracht worden ist, und sagt: „Wenn ich das richtig verstanden habe, ist es also am besten, wenn wir nach der Vorrunde ausscheiden.“ Er lacht. Ein guter Witz.

Löw hat es nicht ganz richtig verstanden, aber das stört niemanden, denn Löw schwebt in gutem Sinne ein wenig über den Dingen. Gelassenheit ummantelt ihn. „Die zwei Jahre mit Jürgen Klinsmann haben mir unheimlich geholfen“, sagt Löw, wenn er an die Anfänge seiner Zeit beim DFB denkt. 2004 rekrutierte ihn Klinsmann als Co-Trainer, nach der Heim-WM übernahm Löw als Chef. Schon bei seinem ersten Turnier 2008 in Österreich und der Schweiz hätte alles vorbei sein können, nur ein Ballack-Tor rettete Deutschland ins Viertelfinale und ihm den Job.

2012 im Halbfinale von Warschau verrannte sich Löw mit seiner Taktik gegen Italien. Das Aus wurde ihm zugeschrieben, das lastete schwer auf ihm. „Man lernt aus Erfahrungen und Fehlern. Ich glaube, dass ich mich entwickelt habe“, sagt er heute. Er sei ruhiger geworden, gelassener. Dazu haben eben auch die Negativerlebnisse wie 2012 beigetragen. „Seitdem schätze ich gewisse Dinge abseits des Fußballs noch mehr“, sagte er kürzlich dem „Stern“ und meint damit, „die Fähigkeit, Ruhe nicht nur zu haben, sondern sie auch genießen zu können“, „die Wertschätzung von Freunden“ und Ablenkung vom Fußball. „Das stabilisiert mich an Tagen, an denen es mal schiefgehen kann.“

Klinsmann hat diesen Gedanken einst bei der Führung der Nationalmannschaft implantiert. Noch heute hat Manager Oliver Bierhoff ein Foto auf dem Rechner, das Klinsmann in einer Zeit sendete, als sich Fußball-Deutschland gekonnt wie eh und je empörte. Über Klinsmann.

Drei Monate vor der WM in Deutschland war das Testspiel gegen Italien mit 1:4 verloren gegangen. Ein wahres Desaster. Und Klinsmann, der Bundestrainer, der Mann, der für alles verantwortlich war zu jener Zeit, sendete dem inneren Zirkel ein Bild. Darauf zu sehen: ein Sonnenschirm, ein Tisch, weißer Sandstrand und die Wellen vor Huntington Beach, Kalifornien, wo Klinsmann damals trotz seines Jobs in Deutschland wohnhaft blieb. Die Botschaft: Jungs, es geht uns gut, es nützt nichts, die Nerven zu verlieren und sich so schlecht zu fühlen, wie es die Nation einzufordern scheint. Klinsmann ertränkte die bizarren Aufgeregtheiten des Geschäfts mit einem Klick im Pazifik und konzentrierte sich auf das Wesentliche – mit Erfolg. Löws Huntington Beach ist der Schwarzwald. Dort liegt ein Teil seines Erfolgs begründet.

„Er ist so geblieben, wie er immer war. Wenn er vorbeischaut, fragt er, wie das Geschäft läuft“, sagt Werner Hornig, ein Mann mit Glatze, schwarzer Brille, ergrautem Bart und guter Laune. „Wir Schönauer lassen ihn mit Fußball in Ruhe.“ Hornig kennt sich mit großen Reisen aus, er verkauft sie in seinem Reisebüro. Aber Löws Reise ist größer.

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    Mit ihm hat er damals sechs Jahre lang in der Schönauer Jugend gespielt. Und in der Freizeit auf dem sandigen Platz vor dem Haus der Familie Löw. Am liebsten gegen die Kinder aus dem Nachbarort. Jeder gab 50 Pfennig für einen Pokal. Und der Jogi, sagt Hornig, der war auf Sand und im Verein immer der Beste, der Filigranste. 15 Tore schoss er mal in einem offiziellen Spiel, das erzählen sie noch heute. Das Schöne, dafür sorgte der Jogi. So lässt er am liebsten auch als Trainer spielen: gestaltend, kreativ, torgefährlich. Paradox, dass er erst von diesem Ideal abrücken musste, um mit einer Armada von Innenverteidigern in Brasilien seinen Erfolgszug zu beginnen.

    Sein Bruder betreibt das Vereinsheim des FC Schönau

    Diese Lehre hat er längst gezogen. Natürlich geht es darum, die Spieler und die Mannschaft zu entwickeln. Das ist Löws Anspruch an sich. Aber er hat sich einen Pragmatismus angewöhnt, der ihm den Titel 2014 bescherte und das Leben leichter macht. Mit den Zweifeln an seinen Entscheidungen beschäftigt er sich weit weniger als früher. Warum nicht Kießling? Warum nicht Schmelzer? Wieso darf Podolski dabei sein? Warum spielt Lahm nicht rechts? Was wird aus Schweinsteiger? Nicht nur an Stammtischen, sondern auch in den oberen Etagen der Bundesliga-Clubs gibt es ja noch immer die Meinung, der WM-Titel sei nicht seiner Qualität als Trainer geschuldet, sondern vornehmlich dem tollkühnen Talent der Spieler.

    Aber: Löw hat jeden Kader stets so sorgsam mit zusammengestellt, dass Deutschland bei den vergangenen fünf Turnieren stets das Halbfinale erreichte und dabei regelmäßig die Herzen der Fans eroberte. Er macht einfach sein Ding, schon lange, aber nun noch konsequenter. Er gefällt sich in der Rolle, die er öffentlich einnimmt. Die taillierten Hemden, die lasterhafte Liebe zu Rotwein, Schokolade und Espresso machen ihn zu einem kultivierten Mann, der nicht nur fürs Fachmagazin interessant ist, sondern auch für die bunten Blätter.

    Aber er erweckt in seiner unaufgeregten Art nie das Gefühl, dass es um etwas anderes ginge als den Erfolg der Mannschaft. Vielleicht wäre er kein guter Vereinstrainer, vielleicht jedoch ist er der perfekte Bundestrainer. Sein Vertrag läuft bis zur WM 2018. Aber erst mal geht es um die EM. Um den Titel. Ganz unaufgeregt. Löw ist nämlich niemand, der zu Übertreibungen neigt. Das liegt in der Familie.

    Sein Bruder, den alle Pit nennen, betreibt das Vereinsheim des FC Schönau im „Jogi-Löw-Stadion“. Holztheke, Bier vom Fass, Kartenspieler weiter hinten am Tisch. Dort sitzt der Bundestrainer schon mal und trinkt seinen Espresso. An der Wand hängt ein kleines Bild, rot gerahmt, auf dem Joachim Löw zusammen mit Kanzlerin Merkel zu sehen ist. Sie hat eine Hand auf seine Schulter gelegt und lächelt. Daneben um ein Vielfaches größer: ein Poster der Bezirkspokalsiegermannschaft von 2011.