Paris. Antoine Griezmann hörte immer nur: Du bist zu klein. Er musste nach Spanien wechseln, um seine Größe zu beweisen

    Das Schlimmste, sagt Antoine Griezmann, waren die Nacht und der Tag danach. Die Leere, die Ohnmacht und immer wieder die Erinnerung an die Szene, wie er diesen Foulelfmeter an die Latte setzte. Doch der Fußball, so platt es sich anhört, gibt immer eine neue Chance. Nicht mal zwei Wochen nach dem tragisch verlorenen Champions-League-Finale mit Atlético Madrid steigt Antoine Griezmann heute also gegen Rumänien in die Heim-Europameisterschaft ein (21 Uhr/ZDF). „Die Spiele mit Frankreich werden mich vieles vergessen lassen“, kündigt er an.

    Auf einen unbelasteten Griezmann hofft eine ganze Nation. Der 25-jährige Halbstürmer gilt vielen Beobachtern als nach Lionel Messi und Cristiano Ronaldo aktuell drittbester Spieler der Welt. 22 Ligatore hat er in den beiden vergangenen Spielzeiten für Atlético geschossen, eine bemerkenswerte Quote in einer defensivorientierten Mannschaft. Nun sollen seine Treffer den französischen Heim-Hattrick nach dem EM-Sieg 1984 und dem WM-Titel 1998 perfekt machen. Wegen der Erpressungsaffäre und Ausbootung von Sturmpartner Karim Benzema steht er mehr denn je im Fokus.

    Griezmann, der Erlöser – welche Ironie. Denn eigentlich dürfte er gar nicht für die Nationalelf spielen. Ja, eigentlich sollte es Profis wie ihn in Frankreich gar nicht geben. Nirgendwo sonst in Europa werden Fußballer schon in jungen Jahren so sehr nach ihren athletischen Voraussetzungen ausgesiebt, entsprechend der Lehre der „Direction Technique Nationale“ (DTN) am Leistungszentrum in Clairefontaine, die der Weltmeistertrainer von 1998, Aimé Jacquet mal so begründete: „Der Fußball von heute gestattet keine Spielereien. Er ist Kampf.“

    In dieser orthodoxen Fußballphilosophie ist nichts wichtiger als der Körper. Griezmann aber misst nur 1,74 Meter, und früh war klar, dass er nie ein Riese sein würde. Also wurde der Junge aus dem Burgund weggeschickt. Wieder und wieder. „Ich habe bei fast allen Vereinen der Ligue 1 ein Probetraining gemacht, und immer gaben sie mir die­selbe Antwort: ‚Du bist zu klein.‘“ Am schlimmsten traf ihn die Absage von seinem Lieblingsclub Olympique Lyon. Dorthin hatte ihn der Vater, selber Trainer kleinerer Mannschaften, schon als Knirps so oft wie möglich mitgenommen. Antoine trug immer das Trikot seines Lieblingsspielers, Mittelstürmer Sonny Anderson.

    Parallel kickte er also weiter für seinen Jugendverein Maconnais, als er mit 13 Jahren bei einem Turnier in Paris doch noch entdeckt wurde. Der Scout Eric Olahts steckte ihm einen Zettel zu und sagte ihm, er solle ihn zu Hause mit seinen Eltern lesen. „Möchtest du bei Real Sociedad spielen?“, stand darauf. San Sebastián. Spanien.

    Im Land des Titelverteidigers wird eine andere Fußballschule gelehrt, eine, die neben der Technik nicht den Körper in den Mittelpunkt stellt, sondern eher den Kopf. Eine, die sich mit Griezmanns Qualitäten weit besser vertrug – Talent und Instinkt lassen sich eben nicht in Metern, Kilogramm und Muskelmasse quantifizieren. Und weil er das Spiel, seine Räume und seine Momente fühlen kann, weil er sich zudem prächtig entwickelte, ist Griezmann heute nicht nur schnell, spielintelligent und improvisationsfreudig, sondern, trotz seiner Größe, sogar relativ kopfballstark.

    Damals fiel die Entscheidung nicht leicht, in ein fremdes Land zu gehen. Familie Griezmann entschied sich schließlich für einen Kompromiss. Antoine zog zu Olhats nach Bayonne im französischen Baskenland, ging dort zur Schule und fuhr zum Training über die Grenze ins 60 Kilometer entfernte San Sebastián.

    Immerhin, ein zweites Mal ließ ihn Frankreich nicht entwischen. Ab der U19 mit der er die EM im Finale gegen Spanien gewann) wurde er in alle Nachwuchsteams berufen. Die glückliche Liaison wurde nur unterbrochen, als er in der U21 vor einem wichtigen Qualifikationsspiel in die Disco ging. Ein Jahr Sperre für alle Verbandsteams lautete die Strafe. Erst kurz vor der WM 2014 durfte er zurückkehren, dann gleich zur A-Mannschaft von Didier Deschamps und sofort in die Stammelf.

    Heute zweifelt niemand mehr an ihm. Sein Verein Atlético – der vor zwei Jahren rund 30 Millionen Euro nach San Sebastián überwies – ist gerade dabei, seinen Vertrag bis 2021 zu verlängern und die Ausstiegsklausel von 80 Millionen Euro weiter anzuheben. Unter Trainer Diego Simeone ist er nicht nur zum Goalgetter geworden, sondern auch noch robuster und professioneller. Seine gesellschaftliche Seite lebt er jetzt weniger in der Disco aus als beim Mate-Tee mit seinen südamerikanischen Teamkollegen. „Ich bin gern fröhlich, ich bin ein Junge, der glücklich ist im Leben, und so versuche ich zu sein, in der Kabine und auf dem Platz“, sagt er über sich.

    Manchmal ist das allerdings nicht so einfach. Als vorigen November der Terror über Paris kam, stand Antoine Griezmann im Stade de France auf dem Platz gegen Deutschland. Seine Schwester Maud besuchte das fatale Konzert im Bataclan. Eine quälende Stunde verging, ehe sie ein Lebenszeichen senden konnte. Maud war nichts passiert, aber für Antoine Griezmann und Frankreich gibt es bei diesem Turnier noch mehr zu vergessen als nur verschossene Elfmeter in wichtigen Spielen.

    Frankreich: Lloria – Sagna, Rami, Koscielny, Evra – Pogba, Kanté, Matuidi, – Griezmann, Giroud, Payet. Rumänien: Tatarusanu – Sapunaru, Chiriche, Grigore, Raț – Pintilii, Hoban, Popa, Stanciu, Stancu – Andone. Schiedsrichter: Viktor Kassai (Ungarn)