Kiew/Aix-en-Provence. Obwohl Fußball traditionell zu den beliebtesten Sportarten zählt, treibt die Ukraine und die Menschen etwas anderes um.

Wie sich doch die Zeiten gegenüber 2012 geändert haben. Fast genau auf den Tag vor vier Jahren werkelten Arbeiter vor dem Unabhängigkeitsdenkmal in Kiew noch an der größten Fanmeile des Landes, und als der Ball bei der von der Ukraine und Polen veranstalteten Europameisterschaft endlich rollte, erfreuten sich Fußballfans aus ganz Europa an der historischen Kulisse.

2016 ist alles anders. Public Viewing findet selbst in der Hauptstadt nur ganz bescheiden vor dem Olympiastadion und in einer Parkanlage am Dnepr statt. Die einst von den Anhängern so gut besuchte Prachtmeile Kreschtschatik ist fußballmäßig gänzlich verwaist. Auch am früheren Gewerkschaftshaus, das während blutiger Maidan-Proteste ausbrannte, steht keine XXL-Video-Leinwand mehr.

Trotz des vereinbarten Waffenstillstands sterben in der Ukraine täglich Menschen

Wer es nicht wüsste, würde gar nicht bemerken, dass die Ukraine in ein paar Tagen wieder bei der Euro mitspielt. Es gibt keine Fan-Artikel und kaum Werbung in der Öffentlichkeit. Wo so wenig Vorfreude herrscht, dahin muss man auch nicht zurück. Der erste Gegner der deutschen Nationalmannschaft, der sich dann nächsten Sonntag in Lille dem Weltmeister stellt, ist nach dem Trainingslager in Ascona gar nicht mehr in die Heimat gekommen.

Am Freitag nach dem gewonnenen Testspiel gegen Albanien (3:1) im italienischen Bergamo ging es gleich weiter ins EM-Quartier. In Aix-en-Provence im Süden Frankreichs bewohnt der Tross der Ukraine ein komfortables Hotel an der Avenue Mozart. Ist das der Ort, von dem so etwas wie Freude ausgehen kann?

Denn obwohl Fußball traditionell zu den beliebtesten Sportarten zählt, treibt das Land und die Menschen etwas anderes um: der seit zwei Jahren anhaltende Krieg in den östlichen Regionen gegen Russland. Trotz eines vereinbarten Waffenstillstands sterben in den besetzen Gebieten in Donezk und in Lugansk immer noch täglich Soldaten und Zivilisten. Mittlerweile sollen die Kämpfe rund 10.000 Tote gefordert haben. Und eine Krise jagt die nächste. Die Wirtschaft liegt am Boden, und die Landeswährung kann nur durch Finanzhilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF) gestützt werden. Derzeit muss man fast 30 Griwna für einen Euro bezahlen, vor vier Jahren lag der Kurs bei etwa 10:1.

Weil die tiefen Risse, die sich durch Staat und Gesellschaft ziehen, eben auch vor der Nationalmannschaft nicht Halt machen, sind die 23 Auswahlkicker als Botschafter der Ukraine in einer zwiespältigen Mission unterwegs, bei der zwangsläufig verwirrte Gefühle aufkommen. Was hat sich Trainer Michail Fomenko nicht alles schon anhören müssen, seitdem er den 98-fachen Nationalspieler Oleg Gusew daheim gelassen hat. Fomenko gab dem 19-jährigen Alexander Sintschenko den Vorzug, der derzeit beim russischen Verein FK Ufa unter Vertrag steht. Dass zwei weitere Kicker (Jewgen Selesnjow und Bogdan Butko) bevorzugt wurden, die ihr Geld in Russland verdienen, verursachte einen Sturm der Entrüstung.

Der Routinier Gusew gilt ja nicht nur als eine Institution bei Dynamo Kiew, sondern besitzt landesweit ein hohes Standing. Nach der WM 2006 wurde der 33-Jährige bereits mit dem Orden für mutige Einsätze fürs Vaterland ausgezeichnet. Experten wie der Ex-Profi Viktor Leonenko lästerten, die Nation bräuchte sich keine Gedanken um den Einzug ins Viertel- oder gar Halbfinale machen, stattdessen „sollten sie Windeln für die vielen unerfahrenen Spieler einpacken“. Sogar von einem „Verbrechen“ sprach Dynamo-Vereinsbesitzer Igor Surkis.

Er und sein Bruder Grigorij, einflussreiches Mitglied im Exekutivkomitee der Uefa, gelten immer noch als die Strippenzieher im ukrainischen Fußball, den die erbitterte Rivalität zwischen den Schwergewichten Dynamo Kiew und Schachtar Donezk belastet. Es geht um Einfluss, Macht und Politik. Wie sehr die Fehde das Nationalteam berührt, war beim Liga-Duell vor einem Monat zu besichtigen: Ausgerechnet die Nationalspieler Taras Stepanenko (Donezk) und Andrej Jarmolenko (Kiew) schlugen mit Fäusten aufeinander ein. Der Zwischenfall schien die Sprengkraft zu besitzen, die gesamte EM-Mission zu gefährden.

„Jarmolenko ist nicht mehr mein Kumpel. Sollen doch die Nationaltrainer entscheiden, was passiert“, schimpfte Stepanenko. Die meisten Fans waren überzeugt, dass er den Superstar „unpatriotisch“ beschimpft habe und daraufhin „hat Jarmolenko eben reagiert, wie es sich für einen ukrainischen Patrioten gehört, er hat sich und seine Ehre verteidigt“, schrieb ein User in einem Internet-Forum. Viele vermuten, dass die Grabenkämpfe zwischen den Fraktionen aus Kiew und Donezk auch während der EM weitergehen.

Für den Binnenfrieden vielleicht dienlich, dass am Freitagabend bei der Generalprobe gegen Albanien ausgerechnet die Streithähne trafen: Der Mittelfeldspieler Stepanenko (9.) und der Rechtsaußen Jarmolenko (49.) erzielten die ersten beiden Treffer. Mit Jewgeni Konopljanka vom Europa-League-Sieger FC Sevilla trug sich denn auch gleich der dritte Akteur in die Torschützenliste ein, der aus deutscher Sicht Beachtung verdient. Doch als Einheit trat das Team trotz des 3:1-Sieges nicht auf. Weder gegen den EM-Teilnehmer Rumänien (4:3) noch gegen den Mitstreiter Albanien wirkten Offensive und Defensive gut miteinander abgestimmt. Vor allem die teils grotesken Patzer von Torwart Andrej Pjatow müssten eigentlich für Alarmstimmung sorgen, doch der Nationaltrainer sah darüber milde hinweg. „Ich kenne keinen Coach, der jetzt schon zufrieden wäre“, sagte Fomenko. „Die Jungs sind gewarnt: Die Fehler, die heute passiert sind, dürfen wir morgen und übermorgen nicht wiederholen.“

In den besetzten Gebieten steht das Zeigen ukrainischer Fahnen unter Strafe

Viel Arbeit für den 67-Jährigen, der im Dezember 2012 antrat und beinahe den EM-Gastgeber Frankreich in den Playoff-Spielen zur WM 2014 eliminiert hätte. Jetzt ist die Ausgangslage zur EM-Endrunde klar: „Die Nummer eins in der Gruppe ist Deutschland, um Platz zwei kämpfen wir, Polen und Nordirland.“ Für dieses Unterfangen wird die Unterstützung wohl bescheiden bleiben. Die Internetzeitung „Apostroph“ stellte die Frage, ob sich die Menschen in den besetzten Gebieten überhaupt trauen, bei Toren der Blau-Gelben zu jubeln? Denn auf dem Gebiet der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk steht sowohl das Zeigen ukrainischer Fahnen, das Singen der Hymne oder andere Sympathiebekundungen zur Ukraine unter Strafe. Wer sich dem widersetzt, dem drohen drastische Sanktionen und lange Haftstrafen in Straflagern. Ist es da ein Wunder, wenn ein Land nicht in Fußball-Stimmung kommt?