Ascona. Der Dortmunder Marco Reus hat große Ziele. Im Abendblatt spricht er über Verantwortung, Verletzungen und seine erste Rede.

Es sind nur ein paar Schritte vom Trainingsplatz in Ascona bis zum Delta Hotel, in dem Deutschlands Nationalspieler – in wechselnder Besetzung – täglich zwischen 12.30 Uhr und 13.30 Uhr zur Medienaudienz bitten. Marco Reus nutzt trotzdem den Shuttleservice und lässt sich zum Termin mit dem Abendblatt im dunklen Minivan vorfahren. Faul ist der derzeit angeschlagene Dortmunder deshalb aber nicht: „Ich tue alles, um schnellstmöglich fit zu werden“, sagt er.

Hamburger Abendblatt: Herr Reus, 1996 hat Deutschland zum letzten Mal einen EM-Titel geholt. Da waren Sie sieben Jahre alt. Erinnern Sie sich noch an etwas von diesem Turnier?

Marco Reus: Nichts.

Nichts?

Reus : Nein, tut mir leid.

Dann stammen Ihre ersten EM-Erinnerungen aus 2000 und 2004?

Reus : Genau. Damals war ich meistens mit Freunden unterwegs. Wir haben auch einige Spiele auf so einer Art Fanmeile in Dortmund gesehen.

Deutschland schied in beiden Turnieren in der Vorrunde aus. So schlimm war es bei Ihrem ersten Turnier als Profi 2012 nicht. Doch trotz Halbfinale haftet ein Makel an diesem Turnier.

Reus : Es war ein schwieriges Turnier, weil viele spät aus ihren Vereinen kamen. Das war keine optimale Vorbereitung, weil man einen längeren Zeitraum zusammen braucht vor einem so großen Turnier, um sich einzuspielen. Bis zum Halbfinale waren wir gut im Turnier, aber an dem Tag war Italien stärker.

Sie kamen in dem Turnier nur 125 Minuten lang zum Einsatz ...

Reus : Die ersten drei oder vier Spiele habe ich nicht gespielt, das stimmt. Gegen Griechenland habe ich meine Chance bekommen. Wir haben gewonnen, ich habe meine Leistung gebracht und sogar mit einem Tor gekrönt.

Trotzdem mussten Sie wieder auf der Bank Platz nehmen. Hinterher hieß es: Mit Ihnen in der Startformation wäre Deutschland nicht ausgeschieden.

Reus : Puh, das ist vier Jahre her! Der Bundestrainer hat das so entschieden, das musste ich akzeptieren. Hinterher weiß man immer, wie man es anders hätte machen können. Wie sagt man so schön: Hätte, hätte, Fahrradkette.

Welche Rolle möchten Sie bei dem anstehenden Turnier einnehmen?

Reus : Mein Anspruch ist zu spielen. Ich will unter die ersten elf, will der Mannschaft in jeder Partie helfen und zeigen, dass ich diesen Platz verdiene.

Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff hat gesagt, dass Spieler wie Sie, die 2014 nicht dabei waren, besonders wichtig sind, um die Erfolgsgier nach dem Weltmeistertitel aufrechtzuerhalten. Stimmen Sie zu?

Reus : Die Jungs, die schon Weltmeister sind, werden nicht nachlassen. Die wollen automatisch den nächsten Titel holen. Und für die Spieler, die nicht dabei waren, ist es ein Ansporn, den ersten Titel mit der Nationalmannschaft zu holen. Vielleicht können wir die, die 2014 dabei waren, tatsächlich noch ein bisschen antreiben.

Sie haben weder im Verein noch mit der Nationalmannschaft bisher einen größeren Titel gewinnen können. Wie gehen Sie damit um?

Reus : Gelassen. Natürlich ist es ein Traum jedes Fußballers, Titel zu gewinnen. Ich würde lügen, wenn das bei mir nicht auch so wäre. Aber ich kann das, was hinter mir liegt, nicht mehr ändern. Jetzt heißt es, nach vorne zu blicken, sich immer wieder neue Ziele zu setzen.

Ihr bisheriger Dortmunder Mannschaftskollege Mats Hummels wechselt nach der EM zu Bayern München. Nicht nur, aber sicher auch, weil dort die Wahrscheinlichkeit auf große Titel am höchsten ist. Könnte Ihre Sehnsucht nach Trophäen auch so groß werden, dass Sie den BVB verlassen?

Reus : Ich mache mein persönliches Glück doch nicht nur abhängig von Titeln. So sehr ich diese als Fußballer natürlich gewinnen will. Aber im normalen Leben – darauf beziehe ich mich – bin ich auch ohne Titel glücklich, schon allein deswegen, weil ich den Sport ausüben kann, an dem ich Spaß habe. Das wollte ich immer.

Sie haben sich Anfang des Jahres noch sehr zuversichtlich geäußert, dass der BVB die Verträge mit den fraglichen Stars verlängert bekommt.

Reus : Als Führungsspieler beim BVB liegt es auch in meiner Verantwortung, dass ich mich mit den Verantwortlichen austausche, weil mich die Planungen interessieren und weil ich will, dass aus diesem Verein ein noch größerer wird. Das wird aber nicht einfacher durch die Abgänge von Mats und – wenn es so kommt – Ilkay (Gündogan, die Red.), der auch eine unglaubliche Qualität hat. Deshalb hoffe und erwarte ich, dass gute Spieler kommen.

Ihr Kumpel Mario Götze wird nicht zurückkommen, er will sich in München durchsetzen. Wussten Sie vor der Verkündung von seinem Entschluss?

Reus : Natürlich haben wir darüber gesprochen.

Und?

Reus : Es ist Marios Entscheidung, er fühlt sich damit wohl, das muss man akzeptieren, und das tue ich auch.

Sie sind gut befreundet: Fragt er Sie bei so einer wichtigen Entscheidung um Rat?

Reus : Nein, Mario ist nicht auf meinen Rat angewiesen, er kann wichtige Entscheidungen selbst treffen. Natürlich tauscht man sich immer mal aus.

Der eine kommt nicht, der andere geht. Der Abschied von Kapitän Hummels verursacht auch einen Verlust an Mannschaftsführung. Fühlen Sie sich bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen?

Reus : Ich glaube, dass ich in den vergangenen Jahren stetig in der Mannschaftshierarchie aufgestiegen bin. Ich bin seit vier Jahren im Verein, in der vergangenen Saison war ich Vizekapitän. Es wird spannend sein, wie sich das bei uns weiterentwickelt.

Wenn der Kapitän von Bord geht, wird der Vize auf die Brücke gerufen.

Reus : Das werden wir mal schauen.

Keine großen Ambitionen auf die Binde?

Reus : Darauf lege ich nicht die oberste Priorität, aber natürlich ist es eine Ehre, als BVB-Kapitän den Platz zu betreten. Wenn die Möglichkeit da ist, werde ich sicher nicht nein sagen. Viel wichtiger ist aber, dass ich fit bin.

Derzeit trainieren Sie nur dosiert, die Leiste bereitet Ihnen Schmerzen ...

Reus : Die Probleme sind nach dem DFB-Pokal-Finale aufgetreten. Bei 120 Minuten ist das auch kein Wunder. Ich bekomme täglich Behandlungen. Ich denke, ab nächster Woche kann ich wieder ganz normal trainieren.

Zur Behandlung Ihrer Adduktorenprobleme konsultieren Sie regelmäßig den niederländischen Osteopathen Hub Westhovens. Warum ihn?

Reus : Er ist ein guter Junge, zu dem mehrere Nationalspieler fahren. Ich fühle mich wohl bei ihm.

Was macht er mit Ihnen?

Reus : Er schaut, dass in meinem Körper ein Rad ins andere greift. Wenn das nicht gegeben ist, bekomme ich wieder Probleme. Bei den Verletzungen, die ich hatte (Sprunggelenksverletzungen, die Red.), passiert das etwas schneller. Da muss ich vorsichtig sein.

Machen Sie irgendetwas, damit es Ihnen besser geht?

Reus : Ich habe meine Ernährung umgestellt, und dadurch habe ich weniger Körperfett. Ich bin zwar nicht der Typ, der die Hanteln durch den Kraftraum wuchtet, aber ich habe versucht, kontinuierlich Muskeln aufzubauen, die wichtig für mich sind. Aber gerade spürbare Ergebnisse durch die Ernährungsumstellung brauchen ihre Zeit.

Wie viel Zeit?

Reus : Es dauert ein paar Monate. Generell war mein Plan, in der Rückrunde auf ein Niveau zu kommen, auf dem ich alles mitmachen kann und kein Training, kein Spiel mehr verpasse. Dafür haben wir das erste halbe Jahr gebraucht, in dem ich immer wieder mal raus war. Wichtig ist, dass man sich in diesen Momenten nicht verrückt macht und sich an den Plan hält, da braucht man Geduld. Es dauert eben ein paar Monate, bis man die ersten Reaktionen vom Körper erhält.

Der Körper ist das eine, der Geist das andere. Wie gehen Sie mit den Verletzungen und den Folgen um?

Reus : Bei den Verletzungen kommt man schon ins Grübeln. Aber ich kann es ja nicht ändern, es kann halt immer was passieren, das gilt ja nicht nur für mich. Ich arbeite viel prophylaktisch, den Rest kann ich nicht beeinflussen.

Beeinflussen können Sie aber, was die Debütanten der Nationalmannschaft am Wochenende nach ihrem ersten Länderspiel für ein Ritual über sich ergehen lassen müssen …

Reus : Sie haben die Wahl der Qual: eine Rede halten oder singen.

Was haben Sie 2011 gemacht?

Reus : Ich habe eine Rede gehalten.

Bedeutende Worte?

Reus : Ach nee. Ich war meganervös, weil da die ganzen erfahrenen Spieler saßen. Irgendwas ist mir schon eingefallen – aber gelacht wurde dann trotzdem.