Stuttgart. Handballtorhüter Johannes Bitter über das Ende des HSV, seinen Wechsel nach Stuttgart, den geplanten Neuaufbau und die EM-Euphorie

Für die Liegestühle vor dem „Palm Beach“ an der Mercedes-Benz-Arena ist es entschieden zu kalt, aber immerhin: Die Sonne scheint. „Und ich dachte nach vier Wochen Regen schon, ich hätte das Wetter aus Hamburg mitgebracht“, sagt Johannes Bitter. An diesem Sonntag bestreitet er gegen Lemgo sein zweites Spiel im Tor des TVB 1898 Stuttgart (Zusammenfassung um 19.45 Uhr im SWR). Nach achteinhalb Jahren Spitzenhandball beim HSV steckt der Weltmeister von 2007 plötzlich im Abstiegskampf.

Hamburger Abendblatt: Herr Bitter, was haben Sie sich da bloß angetan?

Johannes Bitter: Wirklich: Ich bereue meine Entscheidung überhaupt nicht. Die Tabelle von unten zu lesen ist schon eine neue Erfahrung. Aber mein Ansatz nach dem Aus des HSV im Januar war, etwas zu erreichen und nicht im Mittelfeld mitzuschwimmen. Bei einem Topclub weit weg zu spielen und keine Zeit in Hamburg verbringen zu können kam aus familiären Gründen nicht infrage. Mit Stuttgart den Klassenerhalt zu schaffen, das wäre für den Club als Aufsteiger wie eine Meisterschaft. Hier kann man etwas aufbauen, die Infrastruktur ist da, es gibt eine starke lokale Wirtschaft. Trotzdem hat niemand vor, die Mannschaft jetzt radikal umzubauen und die Wurzeln des Clubs in Bittenfeld herauszureißen. Das würde auch das besondere Flair zerstören.

Wie fügt man sich als Star in eine solche No-Name-Truppe ein?

Bitter: Die Erwartungen aus dem Umfeld an mich sind riesengroß, auch meine eigenen. Aber das Management hält den Druck von mir fern. Ich will in erster Linie meine Erfahrung einbringen. Und die Mannschaft ist dafür sehr empfänglich. Das macht Spaß.

Wie lange? Ihr Vertrag endet im Juni.

Bitter: Das ist völlig offen. Die letzten Monate beim HSV haben mir schon sehr zugesetzt. Jetzt versuche ich, die Freude am Handball zurückzugewinnen. Was ich im Sommer mache, wird nicht vor April, Mai entschieden. Ich bin jetzt 33 Jahre alt und könnte sicherlich noch ein bisschen spielen. Aber bin in einer Lebensphase angekommen, in der ich mich jedes Jahr wieder fragen will, ob ich dazu auch gewillt bin. Es gab die Möglichkeit, für zwei, drei Jahre ins Ausland zu gehen. Aber ich möchte meinen Lebensmittelpunkt nicht aus Hamburg wegverlagern.

Wenn Sie an den HSV denken: Welches Gefühl bleibt da zurück?

Bitter: Ich bin sehr traurig, wie die letzten eineinhalb Jahre abgelaufen sind. Seit dem ersten Lizenzentzug 2014 konnte man nicht mehr richtig entspannt sein. Wir als Mannschaft haben es geschafft, uns trotzdem auf unsere Aufgabe zu fokussieren.

Zuletzt gab es eine Serie von sieben Siegen, der HSV war Vierter.

Bitter: Das erfüllt mich mit Stolz und hat sich mindestens so ins Gedächtnis eingeschrieben wie die Meisterschaft. Der Zusammenhalt ist brutal, in unserer WhatsApp-Gruppe pflegen wir immer noch einen regen Austausch. Umso schmerzhafter ist es, jetzt auf die Tabelle zu schauen und da am Ende den HSV mit null Punkten zu sehen. Mein Plan war, noch ein, zwei Jahre zu spielen und dann den Handball in Hamburg in anderer Funktion zu unterstützen und in eine sichere Zukunft zu begleiten.

Kann das nicht noch zu einem späteren Zeitpunkt kommen?

Bitter: Die Chance ist da. Ich bin überzeugt, dass Handball in Hamburg funktioniert. Die Unterstützung, die uns zugesagt wurde, war sehr groß. Wichtig ist, jetzt die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich hatte insgeheim gehofft, der HSV würde nur in die Zweite Liga absteigen. Viele Spieler, auch ich, wären dann an Bord geblieben. Die Kooperation mit dem SV Henstedt-Ulzburg …

… der dem HSV angeboten hat, in der kommenden Saison mit einem gemeinsamen Team unter neuem Namen möglicherweise in der Zweiten Bundesliga anzutreten …

Bitter: … würde ich trotzdem nicht eingehen. Ziel sollte sein, etwas Eigenes, Solides ohne Geschmäckle aufzubauen. Wichtig ist, dass man sich jetzt ein Ziel setzt: Wo wollen wir 2020, 2025 sein? Und was brauchen wir dafür?

Droht da nicht ein neues Luftschloss?

Bitter: Ich rede ja nicht von der Champions League. Als Sportler muss man wissen, wofür man sich einsetzt, und sich auf dem Weg zu einem großen Ziel kleine Zwischenziele setzen. Wichtig ist, dass der Club in dieser Phase für alle Bereiche Spezialisten zu Rate zieht, um das Produkt bestmöglich zu entwickeln und zu verkaufen. Die Chance darf man jetzt nicht auslassen. In ein paar Jahren ist die Euphorie vorbei, und die breite Basis kann schnell verloren gehen.

Sie gelten als einer von zuletzt wenigen HSV-Spielern, die Zugang zum ehemaligen Mäzen Andreas Rudolph haben. Hatten Sie in der Krise einmal versucht, ihn umzustimmen?

Bitter: Natürlich haben wir uns ausgetauscht, der Kontakt ist bis jetzt nicht abgerissen. Aber es wäre sicher völlig fehl am Platz gewesen, Forderungen zu stellen. So bedauerlich es ist, dass er seine Entscheidung so getroffen hat, wie er es getan hat: Er hat seine Gründe, und ich hege keinen Groll. Dafür hat er zu viel für den HSV getan. Er hat dem Handball in Hamburg überhaupt erst die Lebensgrundlage gegeben.

Aber Ihnen und anderen zuletzt mehrmals versichert, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen.

Bitter: Das kann ich so nicht bestätigen. Nur so viel: Wenn man einen Vertrag unterschreibt, baut man natürlich darauf, dass beide Seiten das Vereinbarte einhalten können. Das war über die Jahre auch das Geschäftsgebaren des HSV. Deshalb war ich mir auch bis zum 14. Januar sicher, dass es weitergeht – bis dann der Insolvenzverwalter das Aus verkündet hat.

Ist die europäische Premier Handball League mit den Hamburg Captains, wie sie der Spielerberater Wolfgang Gütschow plant, aus Ihrer Sicht eine ernst zu nehmende Alternative zum Neustart des HSV?

Bitter: Die Ansätze sind sicherlich die richtigen, und ich sehe das Projekt im ersten Schritt unabhängig vom HSV. Ich habe auch keine Sorge, dass dadurch etwas kaputtgehen könnte. Was dem Handball in der Bundesliga gerade in der öffentlichen Wahrnehmung fehlt: ein gemeinsames Ziel, den Sport als Ganzes voranzubringen. Da wird vieles gefühlt kleingehalten, spielen Rivalitäten eine viel zu große Rolle. Ich bin überzeugt, dass man den Sport auf ein anderes Plateau bringen kann, aber dafür sollte man auch hier versuchen, absolute Profis einzubinden. Die Herangehensweise gefällt mir an der Idee der Premier Handball League.

Der EM-Sieg hat dafür die perfekte Vorlage geliefert. Verspüren Sie Wehmut, die Nationalmannschaftskarriere schon vor fünf Jahren beendet zu haben?

Bitter: Überhaupt nicht. Ich habe mich sehr für die Mannschaft gefreut, die Energie war förmlich zu spüren. Das Turnier hat gezeigt, was im Mannschaftssport möglich ist, wenn man den Spirit findet. Der Bundestrainer hat schon genug Probleme, die verletzten Spieler wieder unterzubringen, die nach der EM wieder zurückkehren. Da werde ich ihn bestimmt nicht vor die Entscheidung stellen (lacht).

Die vielen Verletzungen infolge von Überlastung sind ein Thema, dessen Sie sich als Mitinitiator einer Spielergewerkschaft schon vor Jahren angenommen haben. Passiert ist wenig. Warum?

Bitter: Anscheinend ist der Leidensdruck bei den Spielern noch nicht groß genug. Wenn man mit den Managern der Topclubs spricht, wird jeder bestätigen, dass es zu viele Spiele sind. Hier in Stuttgart dagegen ist man froh, dass die Bundesliga 18 Mannschaften hat. Das Problem lässt sich nur international lösen. Spieler aller großen Nationen müssen sich an einen Tisch setzen und sagen: So geht es nicht weiter. Es fällt auf, dass mittlerweile Topspieler die Bundesliga verlassen, weil sie wissen, dass sie woanders nicht nur mehr Geld, sondern auch Erholung bekommen. Ich würde mir ein System wie in den amerikanischen Profiligen wünschen, bei dem die Spieler automatisch Mitglied der Gewerkschaft werden. Dann hätten wir das nötige Gewicht.

Nach Ihrem WM-Sieg 2007 ist die Euphorie um den Handball in Deutschland relativ schnell wieder abgeebbt. Wie kann man dafür sorgen, dass sie diesmal länger hält?

Bitter: Ich glaube, dass schon einiges passiert ist. In den vergangenen zehn Jahren wurde viel in die Jugendförderung und Trainerausbildung investiert. Das Ergebnis sehen wir jetzt. Aber klar ist auch: In einer Sportart, die nicht omnipräsent ist wie der Fußball, wird es immer Auf und Abs geben. Aber ich gebe Ihnen recht, dass jetzt die Chance besteht, den nächsten großen Schritt zur unangefochtenen Nummer zwei hinter dem Fußball zu machen.

Hat Sie die überragende Leistung von Torwart Andreas Wolff überrascht?

Bitter: Jein. Man hat in der Bundesliga gesehen, welche Fähigkeiten er hat. Alfred Gislason hat ihn nicht umsonst nach Kiel geholt. Das Schwierigste für ihn wird sein, diese Form jetzt unter den neuen Erwartungen zu konservieren. Den nötigen Ehrgeiz hat er sicherlich. Was mir immer geholfen hat: Ich habe mir unabhängig vom Club ein Netzwerk aufgebaut, das mir helfen konnte, sei es beim Mentaltraining, Torwarttraining oder anderen Dingen. Und im privaten Bereich ein Umfeld geschaffen, in dem Handball keine Rolle spielt. Das will ich auch künftig so beibehalten.