Hamburg/Stuttgart. Der HSV trifft auf Stuttgart mit Weltmeister Kevin Großkreutz. Seine Verpflichtung galt als großes Risiko, ist in Wahrheit aber eine einmalige Möglichkeit

Es soll ja einige Leute geben, die behaupten, Kevin Großkreutz würde seinen Kopf einfach nicht benutzen. Doch wie falsch diese Leute in Wahrheit liegen, konnte sein früherer BVB-Kollege Patrick Owomoyela am vergangenen Mittwoch aufzeigen. Der Wahl-Hamburger war für ein DFL-Interview nach Stuttgart gereist, hatte mit seinem einstigen Mannschaftskollegen über alte und neue Zeiten geplaudert – und am Ende eines entspannten Nachmittags Großkreutz zu einer Partie Headis, einer Art Kopfball-Tischtennis, herausgefordert. „Das bringt richtig Bock“, so Owomoyela, „und der Kevin ist ein Naturtalent.“

In erster Linie ist Großkreutz aber noch immer ein Fußballtalent. Das will der 27-Jährige an diesem Sonnabend (18.30 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) auch in seinem ersten Heimspiel für den VfB gegen den HSV zeigen. Und das hat der gebürtige Dortmunder bei Stuttgarts 3:1 zum Rückrundenstart in Köln bereits überraschend eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Der Rechtsverteidiger, der im Winter für zwei Millionen Euro von Galatasaray Istanbul ins Ländle gewechselt war, führte die meisten Zweikämpfe und legte mit 12,1 Kilometern die meisten VfB-Kilometer zurück. „So lange nicht zu spielen und dann zu rennen wie ein Pferd – das können nicht viele in der Liga“, lobte später Stuttgart-Stürmer Timo Werner.

Tatsächlich ist Großkreutz wohl der einzige Bundesligaprofi, der sich widerstandslos in einem Spiel von seinem Trainer diagonal über den Rasen ziehen lässt: vom Linksaußen zum Rechtsverteidiger. Polyvalent nennt man das heute, doch mit solchen Begriffen kann nicht nur Großkreutz wenig anfangen. Er läuft die Linie hoch und runter wie kein Zweiter – egal ob rechts oder links. „Wo der Trainer mich hinstellt, werde ich alles geben“, sagt Großkreutz, und er meint es auch so.

Das alles wusste auch Robin Dutt. Der VfB-Sportchef kannte aber auch die anderen Geschichten über Großkreutz. Dass der Nationalspieler einmal im Streit einen Döner warf. Und dass er nach dem Pokalfinale 2014 in einer Hotel-Lobby pinkelte. „Natürlich hat sich Kevin in seiner Vergangenheit schon das eine oder andere geleistet, das er besser hätte sein lassen sollen“, sagt Dutt im Gespräch mit dem Abendblatt. „Aber auch ich war früher kein Kind von Traurigkeit – das hat aber Gott sei Dank niemanden interessiert.“

Trotzdem hat sich Dutt vor der ersten Verhandlungsrunde detailliert informiert. „Natürlich haben wir uns Erkundigungen eingeholt“, sagt der Manager, schränkt aber ein: „Dabei mussten wir uns über Kevin nicht mehr informieren als über jeden anderen potenziellen Neuzugang.“ Auch die Grundsatzkritik Joachim Löws habe ihn nicht zum Umdenken gebracht. Der Bundestrainer hatte Großkreutz öffentlich schwer angezählt, als er kürzlich sagte: „Ich habe nur begrenzt Verständnis dafür, wie Kevin mit seiner Karriere umgegangen ist.“

Dutt ist Pragmatiker. Natürlich seien 2015 ein paar Dinge bei Großkreutz schief gelaufen, gibt der Stuttgarter zu, und lässt ein langgezogenes „aber“ folgen: „Man muss a-b-e-r fairerweise auch sagen, dass er gar nichts dafür konnte, wegen eines Formfehlers in Istanbul nicht spielen zu dürfen oder das Halbjahr davor verletzt zu sein.“

Weil im vergangenen September Galatasaray zu spät die Wechselunterlagen eingereicht hatte, ließ der Weltverband Fifa den schon als perfekt vermeldeten Transfer aus Dortmund platzen. Großkreutz wechselte trotzdem, durfte aber in der Hinrunde nur trainieren. Doch ein Fußballer, der nicht Fußball spielen darf, fühlt sich unwohl. Also bekam Großkreutz Heimweh – und Dutt Wind davon: „Noch vor einem Jahr wäre ein Transfer von ihm zum VfB finanziell nicht möglich gewesen. Nun gab es die einmalige Möglichkeit, den WM-Teilnehmer nach Stuttgart zu holen, um ihn bei uns zurück zu seiner früheren Stärke zu entwickeln.“

Zurückentwickeln also. „Das klingt vielleicht komisch“, sagt Dutt. „Mehr denn je sind wir darauf angewiesen, eigene Talente weiterzuentwickeln – und den einen oder anderen Fußballer wieder zu entwickeln.“ Als Traditionsverein müsse der VfB seine Rolle im Business Bundesliga neu definieren. „Mit Clubs wie Hoffenheim und Leipzig haben wir in Deutschland neue Konkurrenten und durch die Wahnsinnsgelder aus England international eine neue Situation“, so Dutt. Vereine wie der VfB und auch der HSV müssten da kreative Lösungen finden. Und Großkreutz war nach dem Halbjahr in Istanbul eine ziemlich kreative Lösung.

Hatte Dutt gar keine Sorge, dass sich Großkreutz fernab seiner Heimat Dortmund vielleicht gar nicht mehr zurückentwickeln lasse? „Ich habe ja schon ein bisschen Erfahrung mit solchen Spielern“, wiegelt der Manager ab. „Beim SC Freiburg haben wir beispielsweise mal Mohamed Idrissou geholt, der sich so manches geleistet hatte. Dagegen waren die Geschichten um Kevin weit weniger spektakulär. Und dieser Idrissou wurde damals plötzlich zu einem unserer wichtigsten Spieler.“

Ob Großkreutz nun direkt Stuttgarts wichtigster Spieler wird, muss sich noch zeigen. „Kevin ist bestimmt kein Querkopf“, sagt Owomoyela, der vier Jahre lang mit Großkreutz in Dortmund zusammengespielt hat. „Auf mich wirkte Kevin geläutert, obwohl er sich gar nicht läutern musste. Ich bin mir sicher, dass er für Stuttgart eine echte Verstärkung wird.“

Zustimmende Worte, die Dutt gefallen. Der Sportchef lässt sich auch nicht durch die Schubladen-Berichterstattung über den „Problemprofi“ aus der Ruhe bringen. So habe er schmunzeln müssen, als er gerade erst von einem „Integrationsplan für Großkreutz“ lesen musste, nach dem der Club den Neuzugang extra ins Hilton nahe dem Trainingsplatz einquartiert habe. „Alle unsere Neuzugänge wohnen zunächst im Hilton. Sobald sie dann eine eigene Wohnung gefunden haben, ziehen sie aus. Genauso dürfte es auch bei Kevin sein.“

Dutt weiß, dass Großkreutz, der derzeit keine Zeitungsinterviews gibt, unter Beobachtung steht. „Sein Bild in der Öffentlichkeit und sein tatsächliches Auftreten könnten unterschiedlicher nicht sein“, sagt er. „Kevin ist ein introvertierter Typ, der sogar ein wenig schüchtern ist.“ Unterstützung erhält Dutt ausgerechnet von Gegner-Trainer Bruno Labbadia: „Kevins Wechsel nach Istanbul war unglücklich, aber umso erstaunlicher ist, wie schnell er es in die Mannschaft in Stuttgart nach seiner Rückkehr geschafft hat“, sagt der HSV-Coach, der schon immer ein Faible für „Typen“ in der Liga hatte: „Großkreutz ist anders, er ist nicht stromlinienförmig. Er ist ein anderer Typ, den ich spannend finde.“

Owomoyela wundert sich derweil über das plötzliche Interesse an Großkreutz. „Eigentlich will Kevin doch nur eines“, sagt er. „Fußball spielen.“