Krakau. Die deutschen Handballer gewinnen Halbfinale gegen Norwegen mit 34:33 nach Verlängerung und treffen im Finale auf Spanien. Norwegen protestiert

Dagur Sigurdsson schlug die Hände über dem Mund zusammen, dann fuhr er sich durch die Haare, so dass diese in alle Richtungen abstanden. Der Cheftrainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft rang sichtlich um Fassung, und gerade als er dabei war, sich ein bisschen zu beruhigen, kam Teammanager Oliver Roggisch auf ihn zugestürmt und drückte ihn, so fest er konnte, an sich. „Das war nicht so angenehm, der drückt ziemlich heftig“, sagte Sigurdsson. Als umso schöner empfand er den Grund für die Herzlichkeit des 110-Kilo-Kolosses: Sein Team steht im Finale der Europameisterschaft in Polen! Im bislang spannendsten Spiel dieser Titelkämpfe besiegte die deutsche Auswahl in ihrem Halbfinale Norwegen mit 34:33 (14:13, 27:27) nach Verlängerung.

Ein Nachspiel hat die Partie allerdings, da Norwegen Protest gegen die Spielwertung einlegte. Nach Ansicht der norwegischen Offiziellen soll Deutschland in den letzten Sekunden einen zusätzlichen Spieler in einem gelben Leibchen auf das Feld geschickt haben, obwohl Torhüter Andreas Wolff seinen Kasten nicht verlassen hatte. Bis 9 Uhr am Sonnabendmorgen muss Norwegen den Protest schriftlich begründen, bis 12 Uhr wird eine Entscheidung verkündet.

Im Finale trifft Deutschland, sollte der Protest wie erwartet abgewiesen werden, am Sonntag (17.30 Uhr/ARD) auf Spanien, das sein Halbfinale gegen Kroatien mit 33:29 gewann. Gegen die Spanier hatte es in der Vorrunde eine 29:32-Niederlage gegeben.

„Wir sind unglaublich froh und stolz auf das, was wir erreicht haben“, sagte Bundestrainer Sigurdsson. Es ist das erste Mal seit dem einzigen Titelgewinn 2004, dass eine deutsche Auswahl das Endspiel einer EM bestreitet, zudem ist das Team durch die Finalteilnahme schon jetzt für die WM 2017 in Frankreich qualifiziert.

An derlei Nebensächlichkeiten konnte aber am Freitagabend kein Spieler denken. Es war das Tor von Kai Häfner, fünf Sekunden vor Schluss, das allen im Kopf herumspukte. Das Tor von demjenigen Spieler von der TSV Hannover-Burgdorf, der erst als Nachrücker zum Team gestoßen war und nun so wichtig für den Erfolg wurde. „Wir haben versucht, die Zeit runterzuspielen. Irgendwie hatte ich zuletzt den Ball, und ich habe nur versucht, ihn reinzumachen. Ich habe immer gesagt: Wenn die Mannschaft mich braucht, werde ich alles geben, dann schauen wir, was rauskommt“, sagte Häfner. „Ich bin froh, dass Kai so unglaublich gut gezogen und uns damit so geholfen hat“, sagte Steffen Fäth.

Der Rückraumschütze, dem gegen Dänemark allein in der ersten Hälfte bei sechs Versuchen sechs Treffer gelungen waren, kam gegen Norwegen einfach nicht ins Spiel, ähnlich wie Fabian Wiede, dem gleich der erste Ball durch die Finger flutschte. Zehn Minuten später aber holte Wiede eine Zeitstrafe gegen Norwegen heraus, genau wie Martin Strobel wenige Sekunden zuvor. Mit zwei Spielern mehr auf dem Feld erspielte sich die deutsche Auswahl vier Tore Vorsprung (9:5/16.).

Norwegens Trainer Christian Berge nahm eine Auszeit, in der Folge deckte sein Team aggressiver und störte die Angreifer früh. Die Deutschen wirkten zum ersten Mal in dieser EM nervös, so als würden die Köpfe plötzlich diverse Möglichkeiten durchspielen. Als Fäth zum zweiten Mal etwas übereilt aus schlechter Position den Abschluss suchte und an Torhüter Ole Everik scheiterte, gelang Norwegen im Gegenzug der Ausgleich (12:12/26.).

Nun beorderte Sigurdsson seine Mannschaft zur Besprechung. Nur schien zunächst nicht zu fruchten, was er sagte. Fäth scheiterte immer wieder, leistete sich zudem technische Fehler, beim Stand von 17:17 in der zweiten Hälfte (36.) hatte er bei sechs Versuchen einen Treffer erzielt. „Ich habe heute einen schlechten Tag gehabt – gut, dass das nicht das Finale war“, sagte er. Aber auch andere Spieler vergaben fahrlässig Chancen und leisteten sich technische Fehler. „Unsere Chancenverwertung war nicht gut heute, aber das ist jetzt auch scheißegal“, sagte Rune Dahmke mit einem erleichterten Lachen. Ohne seinen Treffer in der 60. Minute wäre es gar nicht erst in die Verlängerung gegangen.

„Es war heute nicht einfach, weil die Norweger unheimlich gut gedeckt haben“, sagte Fäth. Das Team von Trainer Berge zeigte in Abwehr und Angriff viele Varianten und bewies, dass es vollkommen zu Recht im Halbfinale stand und auch verdient gehabt hätte, das Finale zu erreichen. Das Spiel war dermaßen knapp, dass einige Spieler danach gar nicht so recht in Euphorie verfallen konnten. „Ich zittere immer noch, alles ist total angespannt“, sagte Finn Lemke, der beim Reden die ganze Zeit vor- und zurücklaufen musste.

„Ich glaube nicht, dass es Druck war, aber man hat schon gemerkt, dass die Spieler ein bisschen nachgedacht haben“, sagte Sigurdsson. Umso wichtiger war es, dass Häfner (fünf Tore) und Tobias Reichmann die Nerven behielten. Reichmann traf zehnmal, siebenmal von der Siebenmeterlinie, und wies dadurch eine Quote von einhundert Prozent vor. „Das ist es, was unser Team ausmacht, wir können uns immer aufeinander verlassen“, sagte Fäth.

Wie auch immer das Wochenende endet; die Feierlichkeiten in Berlin stehen fest. Zwischen 16 und 17 Uhr wird es am Montag in der Max-Schmeling-Halle einen Empfang für die Mannschaft geben, den die ARD live überträgt. „Auch wenn wir verlieren sollten, wovon ich nicht ausgehe, wird es eine tolle Party“, sagte Reichmann. Und der erneut starke Torhüter Wolff sagte: „Jeder hier will Europameister werden. Wir haben wieder toll gekämpft. Egal, wer der Gegner im Finale ist: Wir gewinnen sowieso.“