Berlin. Bundestrainer Dagur Sigurdsson spricht im Interview über seine EIgenheiten und die Heraus- und Anforderungen einer Europameisterschaft.

Für die letzten Trainingseinheiten vor der Europameisterschaft hat Bundestrainer Dagur Sigurdsson die Mannschaft noch einmal in Berlin einquartiert. Am Abend vor der Abreise nach Breslau, wo die deutschen Handballer Donnerstagabend nach fünfstündiger Busfahrt eintrafen und wo sie am Sonnabend (18.15 Uhr, ZDF) gegen Spanien ihr erstes Gruppenspiel bestreiten werden, sprach der 42 Jahre alte Isländer über Effektivität, Eingebungen und die Quälerei zwischen den Spielen.

Hamburger Abendblatt: Herr Sigurdsson, meine Mutter hat am Abend vor der Klassenarbeit immer gesagt: Was du jetzt nicht kannst, lernst du auch nicht mehr. Geh lieber schlafen! Was haben Sie am letzten Vorbereitungstag mit Ihren Spielern vor?

Dagur Sigurdsson: Normalerweise weiß ich genau, was ich im Training machen möchte, aber jetzt haben wir alles mehr oder weniger durch. Natürlich kann man noch mal auf Kleinigkeiten eingehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das noch etwas bringt.

Ihre Gegner in der Vorrunde heißen in dieser Reihenfolge Spanien, Schweden und Slowenien. Sie haben sich kein offizielles Turnierziel gesetzt, aber gibt es für die Gruppenphase eine interne Vorgabe, einen Pflichtsieg?

Sigurdsson : Wir sind in Topf drei, die Mannschaften in Topf eins sind die Favoriten. Das sind Frankreich, Spanien, Dänemark und Kroatien. Wir wollen dennoch jedes Spiel gewinnen. Das kann im ersten Spiel passieren, das kann im zweiten passieren, wer weiß.

Besonders auf Linksaußen haben Sie in der Vorbereitung viel ausprobiert. Gab es Spieler, bei denen Sie dadurch auf Stärken gestoßen sind, die Ihnen sonst so nicht aufgefallen wären?

Sigurdsson : Vorweg kann ich sagen, dass Niclas Pieczkowski (Rückraum Mitte, die Red.) seine Aufgabe auf Linksaußen prima gelöst hat, Finn Lemke hat mir in der Mitte der Abwehr auch gut gefallen. Und die Einstellung von Christian Dissinger und Steffen Fäth war bisher sehr gut. Es waren ein paar Kleinigkeiten mit Verletzungen, aber es ist trotzdem so gelaufen, wie ich mir das gewünscht habe. Jetzt müssen wir das alles auf das Parkett in Polen bringen, dann werden wir auch ein gutes Turnier spielen. Hoffentlich bleiben die Jungs jetzt gesund und sind am Wettkampftag bereit.

Anders als auf Vereinsebene haben Sie es als Nationaltrainer mit einem stetig wechselnden Kader zu tun, durch die verletzungsbedingten Ausfälle diesmal mehr denn je. Was schätzen Sie an dieser Arbeit als Bundestrainer?

Sigurdsson : Ich mag, dass man sehr effektiv sein muss und sehr wählerisch. Man darf nicht zu viele Dinge anfassen. Die richtige Mischung zu finden ist das Spannende. Man muss so viel tun wie irgendwie möglich, ohne dass es kompliziert wird. Bei jeder Trainingseinheit kannst du den Einzelnen korrigieren, kannst Sachen umstellen, aber wir versuchen das möglichst an den Basics zu halten, sodass die Jungs Freiraum haben, eigene Sachen zu machen, aber sich trotzdem innerhalb unseres Konzepts bewegen.

Wenn es gut läuft, sind Sie zweieinhalb Wochen zusammen in Polen. Was machen Sie, um Lagerkoller zu vermeiden?

Sigurdsson : So etwas gibt es nicht für mich. Ich habe das als Spieler zehn, 15 Jahre gemacht. Januar bedeutet für mich Hotelzimmer und Halle. Das ist einfach Arbeit, aber es macht auch Spaß, die Spannung ist da.

Dieses geballte Zusammensein, erinnert Sie das ein bisschen an Klassenfahrten von früher?

Sigurdsson : Wenn es eine Klassenfahrt ist, dann bin ich der Lehrer, aber das ist es, glaube ich, nicht für die Jungs. Das habe ich auch als Spieler nicht so erlebt. Das ist auch ein bisschen der Fehler, den viele machen, die das von außen betrachten. Die sehen nur die Spiele und wissen nicht, dass dazwischen die ganze Quälerei liegt. Du musst dich in Balance halten, die Spannung haben, die richtige Einstellung, die Analyse. Das ist so, wie eine Prüfung zu machen. Du quälst dich, und dann kommt diese Prüfung, und das Schlimme ist, du kriegst die Note sofort. Du bist entweder durchgefallen, oder du hast es geschafft. Wenn du durchfällst, ist das ein Riesenschock für dich, aber du hast übermorgen schon wieder eine andere Prüfung. Deswegen sage ich immer, das Leichteste ist eigentlich, das Spiel zu machen. Diese Arbeit dazwischen, das ist Quälerei. Wirklich.

Warum tun Sie sich diese Quälerei dann schon so lange an?

Sigurdsson : Weil es schön ist, wenn man die Prüfung schafft. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man etwas erreicht. Aber man kommt nicht durch ohne diese Niederlagen ohne den Gegenwind und die Quälerei, die dazugehören.

Versuchen Sie während eines Turniers mal abzuschalten, nehmen Sie zum Beispiel Ihre Gitarre mit und ziehen sich dann mal für eine halbe Stunde zurück, wenn die Zeit es zulässt?

Sigurdsson : Nein, das kann ich nicht. Vor allem kann ich das nicht nach Zeitplan. Ich kann wohl abschalten, aber das muss dann automatisch passieren. Ich kann nicht kontrollieren, wann mir irgendwelche Überlegungen durch den Kopf schießen.

Ihr jüngerer Bruder hat in einer ARD-Reportage über Sie gesagt, Sie hätten wahnsinnig viele Ideen, aber nur ungefähr ein Prozent davon wären wirklich gut. Was meint er damit?

Sigurdsson : Mir geht viel Blödsinn durch den Kopf, und ich sage meist meinem Bruder Bescheid oder meiner Frau. Die bremsen mich dann.

Wenn Sie auf Ihre Trainerkarriere blicken, gab es da auch mal eine von diesen Ein-Prozent-Ideen, von denen Sie jetzt nachträglich sagen würden: Ja, die war richtig gut?

Sigurdsson : Ja, ich glaube, ich habe schon Glück gehabt mit ein paar Entscheidungen, die ich getroffen habe, aber ich habe jetzt auch nicht die eine, die mehr wiegt als andere. Man versucht, Entscheidungen zu treffen, und ich habe viele Ideen. Ich weiß nicht, wie es bei normalen Leuten ist. Vielleicht kriegt jeder solche Dinge, und ich bin der Einzige, der sich darüber mit seinem Bruder austauscht.

Sie sagen, Sie wissen nicht, wie das bei normalen Leuten ist. Würden Sie sich demnach nicht als normal bezeichnen?

Sigurdsson : Ich glaube schon, dass ich normal bin. Ich hoffe das zumindest.