Hamburg. Der frühere HSV-Profi genießt seinen Unruhestand, freut sich auf neue Projekte 2016 und erklärt, was er nach seinem Rücktritt völlig unterschätzt hatte

Es klingelt nur ein einziges Mal. „Hallo, grüß dich“, sagt Marcell Jansen. Er sei gerade auf dem Weg von Gladbach nach Düsseldorf, habe jetzt endlich ein halbes Stündchen Zeit.

Mit Jansens Zeit ist das so eine Sache. Im Oktober und November scheiterten die erste Telefonverabredungen. Urlaub in New York. Im Dezember war der bis zum Anschlag ausgefüllte Terminkalender schuld. Hamburg. Los Angeles. Mönchengladbach. Irgendwie war irgendwo immer irgendwas. „Im letzten halben Jahr ist kein Wochentag ohne Meeting vergangen“, sagt Jansen, und klingt fast ein bisschen stolz. „Sorry. Ich hatte einfach nie Zeit.“

Dabei sollte Marcell Jansen jede Menge Zeit haben. Denn seit Sommer ist aus dem HSV-Spieler ein Ex-HSV-Spieler geworden, aus dem Fußballprofi ein Ex-Fußballprofi. Mit 29 Jahren hat er Schluss gemacht. Einfach so. Ich bin dann mal weg. Und als „Ex“ hat man normalerweise zunächst mal keinen neuen Job, aber jede Menge Zeit. Nur bei Jansen war es umgekehrt. Er hatte keine Zeit, aber jede Menge Jobs.

Firmengründer, Sky-Experte, Hamburger-Weg-Botschafter. Ein Sanitätshaus, eine Poker-Online-Plattform. Als Investor gründete Jansen im vergangenen Jahr mit fünf Freunden das Label „Gymjunky“, einen Onlineshop für Fitnessklamotten. Außerdem will er an der Vermarktung einer App mitwirken. Und als was würde er sich selbst bezeichnen? „Unternehmer“, sagt Jansen. „Oder Entrepreneur.“ Jansen überlegt. „Ideenentwickler, Netzwerker. Mich interessieren Strategien und Marketing. Das alles lässt mich morgens aufstehen.“ Und das alles lässt ihm keine Zeit.

Dabei war Jansens Zeitplan bis zum letzten Spiel der vergangenen Saison klar geregelt. „Mein ganzes Leben lang hatte ich feste Abläufe: Training, Essen, Training, Essen, Schlafen. Die Woche war immer auf das Spiel am Wochenende ausgelegt.“ 242 Bundesligaspiele, 45 Länderspiele. „Und von dem einen auf den anderen Tag gab es dieses feste Konstrukt für mich nicht mehr“, sagt Jansen, der zugibt, dass er sein neues Leben trotz aller Vorbereitung zunächst mal anpassen musste. „Die Zeit nach meinem Rücktritt war schon gewöhnungsbedürftig für mich.“

Jansen hatte sich frühzeitig Gedanken gemacht, hatte sich mental auf seine Karriere nach der Karriere vorbereitet. Doch auf einen recht ausgefüllten Acht-Stunden-Tag kann man sich als Ex-Fußballer möglicherweise genauso wenig vorbereiten wie darauf, plötzlich am Sonnabend oder Sonntag Zeit für ein Frühstücksbrunch mit Freunden zu haben. „Früher hatte ich in der Woche auch mal frei, am Wochenende wurde gearbeitet. Jetzt ist es genau umgekehrt. Von Montag bis Freitag bin ich gut beschäftigt – und am Wochenende habe ich plötzlich frei.“

Für den Übergang vom Arbeitsleben zur Rente gibt es jede Menge Bücher. Auch Jansen liest gerne. „Rule Breaker“ von Sven Gabor Jánszky zum Beispiel, oder „Zero to One“ von Peter Thiel. Beide Autoren vertreten den Ansatz, dass man nicht immer dem Strom folgen muss. Für den Übergang von der Fußballkarriere zur Karriere danach gibt es allerdings keinen Ratgeber. Gedanklich hatte Jansen das alles zwar weit vor seinem Rücktritt durchgespielt. Dass zwischen Theorie und Praxis aber ein Unterschied ist, das merkte der zweifache WM-Teilnehmer schon bald. „Ich hatte mich auf alles vorbereitet. Aber auf die Reaktion meines Körpers war ich nicht vorbereitet.“

Jansen hatte mit Stimmungsschwankungen zu kämpfen, er fühlte sich unausgeglichen, unfit. „Natürlich hatte ich auch schon mal was vom Abtrainieren gehört. Aber dass mein Körper nach dem jahrelangen Leistungssport ohne das tägliche Sportprogramm so extrem reagiert, hätte ich nicht gedacht.“ Es fiel ihm schwer, den hochtrainierten Körper auf ein normales Niveau herunterzufahren.

Jansen reagierte. Er musste sich unter der Woche zwar nicht mehr für einen Stammplatz empfehlen, aber so ganz ohne Training geht es eben doch nicht. Mindestens dreimal die Woche geht er nun ins Studio, er trifft sich mit Freunden zum regelmäßigen Indoorfußball. Und wenn er mal wirklich keine Zeit hat, dann hat er sich ein Notfall-Fitness-Programm für Zuhause oder für das Hotelzimmer zusammenstellen lassen. „Eine Isomatte reicht aus.“

Mittlerweile genießt es der 30-Jährige, zwischendurch auch einfach mal nichts zu tun. Als am ersten Weihnachtstag die ganze Familie in Gladbach bei Gulasch, Kartoffeln, Rotkohl und Spätzle zusammenkam, verzichtete Jansen am Morgen danach auf das obligatorische Jogging. Erstmals. „Ich kann mich nicht an ein Weihnachtsfest ohne morgendliche Joggingrunde erinnern“, sagt der frühere Profisportler.

Auch Silvester ließ es sich Jansen gut gehen. 25 Freunde hatte er in seine Wohnung geladen, es gab Tapas und auch das eine oder andere Gläschen Wein. Und natürlich ließ er auch die vergangenen fußballfreien Monate Revue passieren. „Alles in allem waren es tolle und vor allem spannende Monate.“ Nur an den HSV-Trainingsauftakt am 4. Januar musste er nicht denken.

„Bereut habe ich meinen Rücktritt noch zu keinem Moment. Aber genauso wie ich aus meiner Schulzeit dem einen oder anderen Moment nachtrauere, vermisse ich auch gewisse Dinge aus meiner Fußball-Profizeit“, sagt Jansen. So vermisse er die Kollegen, die Kabine, den ganzen Mannschaftskram. „Und wahrscheinlich klingt es komisch, aber ich vermisse die Trainingslagerzeit.“ Dreimal am Tag zusammen mit den Kollegen schwitzen und abends gemeinsam ein Getränk trinken, das habe der frühere Linksverteidiger irgendwie genossen. 21 Trainingslager hat er absolviert. Jansen war in Dubai, Abu Dhabi, Indonesien, Südkorea. Auch im türkischen Belek, wo der HSV ab dem 6. Januar erneut trainiert, war er schon.

Doch Jansen steht zu seiner Entscheidung. Voll und ganz. Selbst Rudi Völlers anschließende Fundamentalkritik, Jansen habe den Fußball nie geliebt, hat den Wahl-Hamburger, der zwischen der Hansestadt und Gladbach pendelt, kalt gelassen. „Ich habe den Fußball immer geliebt“, hatte Jansen damals gesagt. „Aber Herr Völler hat Recht. Das Fußball-Geschäft habe ich nie geliebt aber akzeptiert, denn das Fußball-Geschäft hat mir vieles ermöglicht und dafür bin ich sehr dankbar.“

Vor allem hat ihm der Fußball ermöglicht, auch nach dem Fußball alle Möglichkeiten zu haben. Jansen hat in seinem kurzen Fußballerleben mehr als 20 Millionen Euro verdient. Der Satz „Geld ist mir nicht wichtig“ fällt dem Jung-Unternehmer so natürlich leichter. Doch einfach nur genießen kommt für ihn nicht in Frage. „Früher haben wir von Spiel zu Spiel gedacht, jetzt denke ich von Projekt zu Projekt.“ Frei nach Herberger: Das nächste Projekt ist immer das wichtigste.

Auch 2016 habe er viel vor. Statt seinem Spind in der HSV-Kabine hat er nun einen Schreibtisch in einer Bürogemeinschaft im Kleiner Kielort im Hamburger Univiertel. Seine Ziele? „Ich muss meine Ziele immer visualisieren. Früher wusste ich, dass ich nach einer Verletzungspause bei dem oder dem Spiel wieder zurück sein wollte. Heute ist das nächste Projekt das Ziel“, sagt Jansen, der aber noch nicht allzu viel verraten will. Nur eines ist ihm wichtig: „Ich weiß mittlerweile, dass ich diesen Weg gehen kann.“

Und so ganz ohne Fußball will er ja auch nicht. Er könne zwar ausschließen, dass er mal als Trainer an der Seitenlinie steht. Aber selber kicken will er auch ohne Profivertrag. „Ich spiele ab und an bei Benefizspielen mit. Oder mit Freunden in der Halle.“ Und den Ehrgeiz habe er sicher nicht verloren. Sein erstes Pflichtspiel als Nichtprofi absolvierte Jansen vor zwei Monaten beim SV Lürrip, als er eine Ü-50-Plus-Truppe von Papa Michael verstärkte. Jansen Junior war mit zwei Toren beim 4:4 erfolgreich. Einen Treffer erzielte der Ex-Profi von der Mittellinie aus.