Hamburg. St. Paulis Sportchef Thomas Meggle erklärt seine Strategie bei der Kaderplanung und warum Abgänge von Spielern wichtiger als Zugänge sein können

Seit gut einem Jahr ist Thomas Meggle, 40, Sportchef des FC St. Pauli. Davor war er 13 Spieltage lang Cheftrainer des Zweitligateams, das er als Tabellenschlusslicht an Ewald Lienen übergab. Unter seiner Verantwortung als Sportchef kamen bisher acht neue Spieler zum Kiezclub, zwölf gingen. Das Team entwickelte sich von einem Abstiegskandidaten zum einem Aufstiegsaspiranten. Im Gespräch mit dem Abendblatt erläutert Meggle seine mittelfristige Personalplanung. Er strebt eine Mischung aus jungen Talenten und Spielern an, die viele Jahre für St. Pauli spielen und somit Kontinuität gewährleisten. Für einen Aufstieg sei es nötig, sich im letzten Viertel der Saison „in einen Rausch“ zu spielen.

Hamburger Abendblatt: Wie bewerten Sie die bisherige Saison mit der Bilanz von 30 Punkten nach 19 Spielen und dem vierten Tabellenplatz zur Winterpause?

Thomas Meggle: Es ist bisher eine großartige Saison, die wir spielen. Man sieht, dass die Umbaumaßnahmen, die wir gemeinsam angeschoben haben, gegriffen haben. Viele sagen ja, es sei fast dieselbe Mannschaft wie in der vergangenen Saison und fragen, was mit dieser Mannschaft passiert ist. Aber wenn man mal hinter die Kulissen schaut, sieht man, dass wir im Sommer zwölf Abgänge hatten. Darunter waren auch einige prominente Namen. Wir haben da auch Spielern mitgeteilt, dass sie uns verlassen müssen oder dass wir nicht mehr mit ihnen planen. Das war ein wichtiger Schritt, um ein gutes Fundament zu bilden.

Andererseits gab es nicht so viele spektakuläre Zugänge. Die weitaus meisten aktuellen Stammspieler waren in der vergangenen Saison auch schon da.

Meggle: Daran sieht man, dass es manchmal genauso wichtig oder vielleicht sogar wichtiger ist, wie viele und welche Spieler man abgibt. Es kam uns darauf an, die richtige Mischung zu finden, von den Menschen, vom Alter und von der Personenanzahl her. Man sieht, dass sich jetzt jeder Spieler bei uns wichtig fühlt. Wenn man mehr Spieler hat als wir jetzt, gibt es auch viel mehr unzufriedene Spieler. Diese Unzufriedenheit überträgt sich dann auch auf die ganze Mannschaft. Es heißt nicht umsonst, dass eine Mannschaft nicht aus elf sondern aus 22 Spielern besteht. Aber es dürfen eben nicht viel mehr sein. Es kommt darauf an, dass die gesamte Truppe, also auch diejenigen, die auf der Bank sitzen, immer mitfiebert. Insofern war es bei uns richtig, im Sommer einen klaren Schnitt zu machen.

Sie sind jetzt auch gut ein Jahr im Amt als Sportchef. Die Entscheidung des damals noch neuen Präsidiums war eine Überraschung und gab Zweifel, ob Sie der Aufgabe gewachsen sind. Welche Bilanz ziehen Sie für sich selbst?

Meggle: Es war ein anstrengendes Jahr mit viel Arbeit und vielen Entbehrungen, auch in familiärer Hinsicht. Aber ich finde, dass sich durch die Arbeit im Team vieles in die richtige Richtung bewegt hat. Die Strategie war, zunächst die Profimannschaft zu stabilisieren, um den Klassenverbleib zu sichern, dann ein Team ums Team zu bauen und dann den Kader umzubauen. Dazu kam, Spieler zu halten, die aus unserer Sicht sehr wichtig für den Verein waren. Ich nenne da vor allem Torwart Robin Himmelmann und Innenverteidiger Lasse Sobiech. Mit den jüngsten Vertragsverlängerungen mit Philipp Ziereis und Kyoungrok Choi zeigen wir auch, dass wir mit der Mannschaft in die Zukunft gehen wollen. Dazu kam, dass wir Stefan Studer als Chefscout zurückgeholt haben. Außerdem haben wir weitere Positionen im Scouting neu besetzt und klare Abläufe gerade im Bereich der Kommunikation aufgesetzt.

Nehmen Sie sich auch mal die Zeit, sich zurückzulehnen und auf das zu Ende gehende Jahr zu blicken, oder bleibt zum Genießen keine Zeit?

Meggle: Das Schönste ist für mich, wenn man mit der Familie zum Beispiel beim Essen gemeinsam am Tisch sitzt, ein wenig innehalten kann und sich sagen kann, dass es doch wunderbar läuft, familiär und sportlich.

In der bedrohlichen Situation vor einem Jahr war nicht unbedingt zu erwarten, dass sich alles so entwickeln würde. Hatten Sie nicht auch einmal Zweifel, ob der Schritt ins Management der richtige ist?

Meggle: Es standen zu viele Aufgaben an, um das Schiff wieder auf Kurs zu bringen, als dass ich darüber grübeln konnte. Im Endeffekt war es für den Erfolg ausschlaggebend, dass wir alle eine Einheit waren, vom Aufsichtsrat über das Präsidium, das Management, das Trainerteam, die Mannschaft, die Mitarbeiter und alle drumherum. Diese Geschlossenheit war entscheidend für die positive Entwicklung. Wir müssen in der Führung das vorleben, was wir von den Spielern verlangen.

Die Mannschaft hat zur Winterpause eine realistische Aufstiegschance. Ist es in dieser Situation nicht wichtig, das Team gezielt zu verstärken, um zu zeigen, dass man diese Perspektive ernsthaft verfolgen will. Oder besteht eher die Gefahr, dass die jetzt offensichtlich gut funktionierende Einheit Risse bekommt?

Meggle: Das ist in der Tat eine Gratwanderung. Wenn wir jemanden finden, der uns kurzfristig besser macht, müssen wir abwägen, inwiefern ein solcher Zugang den bestehenden Teamgeist gefährden kann. Andererseits kann ein Zugang im Winter auch ein Vorgriff auf die Sommer-Transferperiode sein, um die Eingewöhnung für die kommende Saison zu verkürzen.

Ein Winterzugang mit einem „Ahaeffekt“ könnte ein klares Signal sein, dass Sie die Aufstiegschance beim Schopfe packen wollen. So etwas ist ja nicht zu konservieren nach dem Motto: Wir wollen lieber in einem Jahr aufsteigen.

Meggle: Klar ist doch aber auch, dass ein Aufstieg nicht planbar ist. Und wir müssen realistisch bleiben. Wenn Leipzig und Freiburg nicht sehr viel falsch machen, sind wir chancenlos, einen direkten Aufstiegsplatz zu belegen. Dahinter gibt es mit uns acht Mannschaften, die ziemlich dicht beieinander stehen. Das Entscheidende für einen möglichen Aufstieg ist, dass man sich bis zum 25. Spieltag in Schlagdistanz bringt und dann die „big points“ macht. Ganz wichtig ist, dass man nicht darüber redet, sondern sich im letzten Viertel der Saison in einen Rausch spielt. Wer vorher vom Aufstieg quatscht, wird ihn meist nicht erreichen. Dazu glaube ich nicht, dass wir finanziell einen Transfer stemmen können, der für einen „Aha-Effekt“ sorgt.

Wie schwer wird es andererseits, im Sommer wichtige Spieler zu halten, die für den aktuellen Erfolg verantwortlich sind, wenn das Team nicht aufsteigt?

Meggle: Es wird sicherlich immer wieder passieren, dass sich Spieler für einen anderen Verein entscheiden. Wir versuchen das Bestmögliche, um die Spieler zu halten, die wir auch halten wollen. Wenn uns das nicht gelingt, ist es wichtig, dass wir dann zumindest eine Transfersumme erzielen. Ich finde, dass eine gewisse Fluktuation auch gut ist, um neue Reize setzen zu können.

Welche Kriterien spielen für Sie bei der Planung des Kaders und der Verpflichtung neuer Spieler die wichtigste Rolle?

Meggle: Wir sehen unseren Weg darin, junge Talente, die es nicht auf Anhieb in die Erste Liga schaffen, zum FC St. Pauli zu holen, die sich dann hier entwickeln können. Dafür brauchen wir aber eine gewachsene Mannschaftsstruktur, insbesondere eine zentrale Achse. Das ist auch für die Identifikation wichtig. Unsere Fans brauchen Konstanten in der Mannschaft, also Spieler, die über einen längeren Zeitraum bei uns sind. Nur so können wir auch gewährleisten, dass sich Talente, die großes Potenzial mitbringen, schnell integrieren und nicht zwei Jahre brauchen, um uns zu helfen. Sie sollen dann ihr Potenzial entwickeln, das über dem Niveau des FC St. Pauli liegt. Natürlich versuchen wir, in Deutschland junge Spieler zu finden, die unser Anforderungsprofil erfüllen. Wir müssen aber auch feststellen, dass wir gerade bei offensiven Außenbahnspielern, die ein hohes Tempo mitbringen, sehr kreativ sein und eher im Ausland suchen müssen.

An welchen der aktuellen Spieler denken Sie, der hier auf Sicht eine neue Identifikationsfigur werden kann?

Meggle: Zum Beispiel Philipp Ziereis. Deshalb haben wir auch mit ihm verlängert. Er kann bei uns eine Führungsfigur in jeder Hinsicht werden. Ein weiteres Beispiel ist sicher Marc Hornschuh. Er hat sich hier parallel zur Mannschaft und zum gesamten Verein in der Zweiten Liga positiv zu einem Leistungsträger entwickelt. Ich denke, dass sich diese Entwicklung auch noch lange weiter fortsetzen kann.

Ausgerechnet dessen Vertrag läuft aber schon am Saisonende wieder aus.

Meggle: Wir haben als Verein bei einigen Spielern eine Option auf Verlängerung, haben es also selbst in der Hand, die Verträge zu verlängern. Bei Marc Hornschuh ist dies der Fall, ebenso bei Fafa Picault und Waldemar Sobota, bei dem es eine mit dem FC Brügge vereinbarte Ablösesumme gibt. De facto laufen von den Spielern, die zuletzt regelmäßig gespielt haben, nur die Verträge von Christopher Buchtmann, Bernd Nehrig, Enis Alushi, Sebastian Maier und Lennart Thy aus.

Wie problematisch gestalten sich die Verhandlungen mit Thy?

Meggle: Unser Angebot liegt ihm vor, aber er möchte sich jetzt noch nicht festlegen, ob er wechselt. Es geht jetzt darum, eine Zeitschiene zu bestimmen, und dann geht es in die eine oder eben in die andere Richtung. Ich habe ihm aufgezeigt, warum es für ihn gut wäre, noch beim FC St. Pauli zu bleiben.