Hamburg. Nach dem 1:2 gegen Karlsruhe übt Trainer Lienen Kritik an Schiedsrichter Weiner und Rückständigkeit des Verbands

Auch mehr als eine Stunde nach dem Abpfiff des letzten Spiels im Jahr 2015 sah sich Ewald Lienen noch nicht wirklich in der Lage, das vergangene halbe Jahr seit dem Start in die aktuelle Saison zu bilanzieren. Dabei sind ja die 30 Punkte aus 19 Spielen und der damit verbundene vierte Tabellenplatz in der Zweiten Liga für eine Mannschaft aller Ehren wert, die im Mai dieses Jahres fast noch in die Dritte Liga abgestiegen und damit in die sportliche Bedeutungslosigkeit abgestürzt wäre.

Doch die Geschehnisse dieses letzten Spiels des Jahres, dem Heimmatch gegen den Karlsruher SC, das mit 1:2 verloren ging, wühlten den Cheftrainer des FC St. Pauli auch mit einem gewissen Abstand immer noch zu sehr auf, als dass er das seit Juli von seinem Team Geleistete hätte umfassend bewerten wollen. „Natürlich können wir alle stolz darauf sein, was wir erreicht haben. Aber im Fußball geht es ja immer weiter“, sagte er nur recht lapidar zu diesem Thema.

Vielmehr aber bewegte Lienen am Freitagabend, dass sein Team nicht mit 33 oder wenigstens 31 Punkten in die Winterpause gehen kann. Für diesen Umstand machte St. Paulis Trainer nach der Heimniederlage gegen den KSC Schiedsrichter Michael Weiner und seine Mitstreiter sowie die aus seiner Sicht rückständigen Regularien im Profifußball als entscheidende Faktoren aus. „Es ist doch lächerlich, dass Sekunden nach einer bestimmten Szene, Millionen am Fernseher genau wissen, was los ist, nur die Schiedsrichter auf dem Feld nicht“, sagte er. „Ich bin schon seit Jahren für den Videobeweis.“ Lienen war dabei so in Rage, dass er KSC-Trainer Markus Kauczinski, als dieser Bedenken gegen Entscheidungen am Bildschirm äußerte, mit einem „Rede doch keinen Quatsch, Markus“ anraunzte, nachdem er ihn kurz zuvor noch in höchsten Tönen gelobt hatte.

Konkret ging es Lienen im Spiel gegen Karlsruhe um fünf entscheidende Szenen, die vom Unparteiischen Weiner falsch bewertet worden seien und den Ausgang des Spiels maßgeblich beeinflusst hätten. Überharte Bodychecks gegen die St. Paulianer Christopher Buchtmann und Lennart Thy im gegnerischen Strafraum hätten mit einem Strafstoß geahndet werden müssen. Dagegen sei der Freistoß, der zum 1:2-Rückstand führte, wegen angeblichen Handspiels von Lasse Sobiech völlig unberechtigt gewesen. Und bei diesem Tor habe es im Durcheinander im Strafraum eine Abseitsstellung des Torschützen Dimitrios Diamantakos gegeben. All diese Szenen hätten korrekt bewertet werden können, wenn die Schiedsrichter sich eines Videobeweises bedienen könnten.

Szene Nummer fünf war, als der Karlsruher Gaetan Krebs einen aussichtsreichen Konter der St. Paulianer mit einem klaren Handspiel unterband und nicht mit Gelb bestraft wurde, wie dies in den Regeln und deren Auslegungen vorgesehen ist. Da derselbe KSC-Spieler in der 86. Minute wegen eines Fouls Gelb sah, hätte dies einen Platzverweis bedeutet und für St. Pauli noch eine Überzahl für rund sieben Minuten (inklusive Nachspielzeit) bedeutet.

„Wir müssen nicht alles auf den Schiedsrichter schieben, denn wir hatten ja auch unsere Chancen, das Spiel für uns zu entscheiden“, sagte am Sonnabend mit gut 27 Stunden Abstand St. Paulis Geschäftsführer An­dreas Rettig bei seinem Besuch im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF. Doch auch er ist ein klarer Befürworter der Einführung des Videobeweises – und dies sogar in offizieller Funktion. Rettig ist Mitglied in der Beratungskommission des International Football Association Board (IFAB), das über die Fußballregeln wacht und Änderungen beschließt. In der ersten Märzwoche 2016 will das IFAB in Cardiff über die Einführung einer Testphase mit einem Videobeweis bei entscheidenden Szenen wie Toren, Aktionen im Strafraum und Vergehen im Rücken des Schiedsrichters, die zu einer Roten Karte führen könnten, entscheiden. Laut Rettig könnte dies dann auch wegen der etwas längeren Sommerpause schon in der Saison 2016/17 im deutschen Profifußball umgesetzt werden, sofern sich auch der DFB und die DFL um die Teilnahme an dem Test bewerben. Bisher haben nur der die Verbände der Niederlande, Brasilien und der USA ihre Teilnahme angekündigt. „Ich gehe davon aus, dass weitere folgen werden“, sagte Rettig im „Sportstudio“.

In den Niederlanden läuft bereits die erste Probephase. Innerhalb von maximal elf Sekunden werden die strittigen Szenen bewertet und entschieden. „Das Ganze wird nicht zu einer Popcorn-Liga mutieren“, sagt Rettig und meint damit, dass die Spiele künftig keineswegs ständig minutenlang unterbrochen werden, weil sich die Schiedsrichter vor dem Bildschirm am Spielfeldrand aufhalten. „Der Videobeweis wird nicht das allein selig Machende sein. Aber er wird die Gerechtigkeit deutlich erhöhen“, sagt Rettig.

Am Freitagabend hätten die bewussten Szenen im Millerntor-Stadion auch ohne elektronische Hilfsmittel korrekt entschieden werden können. „Ich hatte meinen Arm ganz eng am Körper und habe den Ball an die Brust bekommen“, versicherte Lasse Sobiech zu der Situation, die zum entscheidenden Freistoß führte.

„Von der Niederlage lassen wir uns das sehr positive Jahr nicht kaputt machen. Ich ziehe den Hut vor allen Beteiligten und bin hundertprozentig stolz auf das, was wir in diesem Jahr geleistet haben“, sagte Kapitän Sören Gonther.

Trainer Lienen wird die gut zweiwöchige Pause in seiner Heimat in Mönchengladbach verbringen. „Wahrscheinlich werde ich aber dennoch häufiger mit Thomas Meggle telefonieren, als mit meiner Frau sprechen“, ahnt er und deutet damit an, dass er sich mit St. Paulis Sportchef über anstehende Wintertransfers abstimmen wird. Wie Lienen sagte, geht es im Fußball eben immer weiter. Und wenn sein Team wie gegen Karlsruhe aus der Saisonrekordzahl von 25 Torschüssen nur einen Treffer zustande bringt, dann zeigt dies auch einen akuten Mangel an Torjägerqualität, den es jetzt möglichst schnell zu beheben gilt.