Paris. Vier Wochen nach den Attentaten redet in Paris kaum jemand über die Europameisterschaft 2016. Am heutigen Sonnabend werden die Gruppen ermittelt

Am schlimmsten ist es nachts. „Ich kann noch immer nicht schlafen. Bei jedem noch so leisen Knall wache ich sofort auf.“ Livia steht vor ihrer Haustür auf dem Boulevard Richard Lenoir No. 98. Vis-à-vis zum Konzerthaus Bataclan, in das zwar nur 1500 Besucher passen, das aber seit vier Wochen das bekannteste Konzerthaus der Welt sein dürfte. Seit Freitag dem 13., oder auch vendredi noir, der Schwarze Freitag, wie der Tag, der eine ganze Nation veränderte, seitdem in ganz Frankreich genannt wird.

Überall liegen Blumen und Kuscheltiere. Windlichter trotzen dem eisigen Dezemberwetter. Touristen schweigen und fotografieren die zahlreichen Plakate auf dem Gehweg. „Je suis Paris“, steht auf einem in Blau-weiß-rot geschrieben. „Pourquoi?“, warum, wird auf einem anderen gefragt. Eine Antwort gibt es bis heute nicht, nur die grausigen Fakten: 130 Menschen wurden an jenem milden Novemberabend vor vier Wochen in Paris umgebracht. Von acht Terroristen des selbst ernannten Islamischen Staates (IS). Mit Kalaschnikows feuerten die Islamisten stundenlang auf alles, was sich bewegte, bis sich fast niemand mehr bewegte. Alleine 90 Menschen starben vor Livias Haustür im Bataclan, in dem die US-Rockband Eagles Of ­Death Metal gerade den Song „Kiss The Devil“ anspielen wollte.

„Ich dachte erst, dass irgendwo ein Feuerwerk gezündet wurde“, sagt die 31 Jahre alte Übersetzerin, die sich an jenem Abend 20 Minuten vor dem Dauerknallen chinesisches Essen holte und mit einem Freund im Fernsehen den Rest der Übertragung des Länderspiels zwischen Frankreich und Deutschland anschauen wollte. „Das Knallen hörte aber überhaupt nicht mehr auf“, erinnert sich Livia. Erst eine knappe Stunde später realisiert sie, was da gerade passiert. „Von einen auf den anderen Moment war die Welt, in der ich mich wohlfühlte, nicht mehr die gleiche.“

Die Welt, die Livia und die anderen Parisiens so liebten, ist das Paris für Fortgeschrittene. Nur selten verirrten sich Touristen in das 10. und das 11. Arrondissement, diese lebendigen Viertel rund um den Canal Saint Martin, die an eine Mischung aus Ottensen und Schanzenviertel erinnern. Besonders beliebt ist der jüdische Gourmettempel O’Woks, es gibt ein Balkan-Restaurant, den Inder Good Time und ein Halal-Imbiss. Es war das Paris der Cafés, der Restaurants, der Bars. Es war das Paris der Freude und Freiheit. Und genau deswegen war es am 13. November auch das Paris der Anschläge.

Nur vier Wochen später soll Frankreichs Hauptstadt an diesem Wochenende nun wieder das Paris des Fußballs werden. Im Palais des Congrès werden an diesem Sonnabend (18 Uhr/ZDF) die sechs Gruppen für die EM gelost. Auch DFB-Manager Oliver Bierhoff ist als Glücksfee dabei. „Wir werden der Weltöffentlichkeit zeigen, dass wir bereit sind für die EM“, sagt Jean-François Martins, stellvertretender Bürgermeister von Paris. Der Politiker sitzt beim Frühstück am frühen Freitag mit Croissant und Espresso im Rathaus Hôtel de Ville. Er spricht davon, wie Paris von der Fußball-EM profitieren kann und umgekehrt. Martins hat eine gemütliche Figur, vielleicht ein paar Kilo zu viel, aber er wirkt zufrieden. Es werde Fußballturniere in der ganzen Stadt geben, sagt er glücklich, Künstleraktionen und einen Weltrekordversuch im hermetisch abgeriegelten Fanfest.

Drei Kilometer lang und drei Meter hoch soll der Zaun werden. Das ist aber nicht der Rekord. Vielmehr sollen in diesem Riesenkäfig 120.000 Fußballfans unterhalb des Eiffelturms eine Oper anstimmen. „Das wäre was für das Guinness-Buch der Rekorde“, sagt Martins, der frohlockt, das im Sommer die ganze Welt in Paris zu Gast sein wird. 2,3 Millionen Einwohner hat die Metropole an der Seine. Während der EM zwischen dem 10. Juni und dem 10. Juli sollen noch mal drei Millionen Touristen dazukommen.

„Ich mag Fußball“, sagt Livia. Die EM werde sie aber wohl nicht mehr genießen können. „Ich weiß selbst nicht genau, was ich eigentlich denken und fühlen soll.“ Sie sei wütend auf ihr Land, weil sie sich hier nicht mehr sicher fühle. Wenn die Fußball-Welt am Sonnabend nach Paris schaut, ist sie in der Welt unterwegs. Thailand. Drei Wochen. „Ich hatte den Urlaub schon lange gebucht, aber jetzt habe ich Angst zu fliegen.“ Es sei sonderbar. Zu Hause hätte sie Angst. Aber die eigenen vier Wände, die eigene Stadt, zu verlassen, mache ihr auch Angst.

Dabei fühlte sie sich im 11. Arrondissement so heimisch. „Die Leute waren toleranter und entspannter als im Rest von Paris.“ Zumindest waren sie das bis zum 7. Januar dieses Jahres, als ein paar Straßen weiter zwei Männer mit Kalaschnikows in die Redaktionsräume der Satirezeitung „Charlie Hebdo“ stürmten und zwölf Menschen hinrichteten. „An diesen Tag habe wir unser Urvertrauen verloren“, sagt Livia. „Und gerade als ich das Gefühl hatte, dass es ja irgendwie weitergehen müsste, passierte es schon wieder.“

Es. Noch immer können und wollen nur wenige Anwohner darüber sprechen, was am 13. November zwischen 21.20 Uhr und 0.20 Uhr in ihrem Paris passierte. Vier Wochen später hängt über dem Café Bonne Bière, auf dessen Terrasse fünf Menschen starben und das vor einer Woche als erstes wieder aufmachte, ein großes Plakat: Je ­suis en terrasse. Ich bin auf der Terrasse, heißt das, es ist etwa so wie die trotzige Antwort der Überlebenden an die Mörder ihrer Freunde und Kollegen.

„Wir wussten, dass es irgendwann passieren wird“, sagt Sophie Dervill. Die 42-Jährige isst mit ihrem Sohn Basile, 12, und ihrer Schwester Felicie, 39, in der Rue de Belfort zu Abend. Es gibt Pissaladière, eine französische Pizza. Die Welt muss sich ja weiterdrehen. Einmal um die Ecke liegt die Bar La Belle Équipe. Ein Meer aus Blumen erinnert an die fünf Opfer, für die sich die Welt nie mehr weiter drehen wird. Basile ist auch traurig über die Schließung der Confiserie neben dem Café, in dem seit eh und je eine über 90-jährige Dame Süßigkeiten verkaufte. Zwei Kugeln durchschlugen das Schaufenster, ein Passant hat daraus einen umgekehrten Smiley gemacht. „Der alten Dame soll nichts passiert sein“, sagt Sophie, „aber das war zu viel für sie. Der Laden wird wohl nie wieder öffnen.“

Sophie und Basile haben drei Jahre lang in Hamburg gewohnt. Im Portugiesenviertel. Basiles Vater Philipp wohnt noch immer am Paulsenplatz auf St. Pauli. „Hambourg ist wunderschön. Und immer noch so offen“, sagt Sophie. „Frankreich wird immer mehr zu einem Land der Rassisten.“

Drei Wochen nach den Attentaten wurde bei der ersten Runde der Regionalwahlen vor ein paar Tagen mit knapp 28 Prozent der rechtsradikale Front National (FN) zur stärksten politischen Kraft des Landes. „Das ist schon schlimm“, sagt Sophie, die Hollandes Sozialisten gewählt hat. „Aber schätzen Sie mal, wie viel die Rechten in unseren ach so linken Vierteln bekommen haben?“ Sie klappt den Laptop auf, ihre Stimme bebt. „7,49 Prozent! Das wäre so, als ob die AfD 7,49 Prozent in der Schanze bekäme.“

Den Attentaten vom 13. November sind nicht „nur“ 130 Menschen zum Opfer gefallen. Eine ganze Stadt ist zur Geisel des Terrors geworden. „Jeder kennt irgendjemanden, der irgendjemand kennt, der erschossen wurde“, sagt Felicie. Die TV-Journalistin wohnt genau neben dem Bataclan. Am Tatabend war sie bei ihrer Schwester Sophie und bei ihrem Neffen Basile, am Tag danach konnte sie aus ihrer Wohnung verfolgen, wie sich Kamerateams aus der ganzen Welt um die besten Plätze vor dem abgesperrten Konzerthaus balgten. „Obwohl ich selbst fürs Fernsehen arbeite, war ich traurig“, sagt sie. Doch als sie am Donnerstagmorgen gesehen hat, wie die Stadtreinigung die ersten Blumensträuße, die längst vergammelt waren, zusammenfegte, schlug die Trauer in Wut um.

Am Mittwoch sang Madonna spontan auf dem Place de la République

Doch wie soll man dem Terror begegnen? Und wie kann man zu seinem alten Lebensgefühl finden? „Imagine All The People, Sharing All The World“, sang US-Popstar Madonna den alten John-Lennon-Song am Mittwochabend spontan auf dem Place de la Répu­blique und gab damit die Antwort. Zwei Tage zuvor hatte die irische Band U2 unangekündigt die Band Eagles of ­Death Metal zum Ende ihres Paris-Konzerts erstmals seit den Attentaten im Bataclan wieder auf die Bühne geholt. Ein Acht-Minuten-Video davon wurde in der virtuellen Welt des Internets mehr als 250.000-mal geklickt.

Doch in der realen Welt hat Staatspräsident François Hollande am Tag nach den Attentaten Vergeltung angekündigt: „Frankreich ist im Krieg.“ In der Woche danach hat Sophie Derville einen Brief von Basiles Schule bekommen, in dem den Eltern Hilfe angeboten wurde. Auch sein Mathelehrer habe eine ganze Unterrichtsstunde über die Attentate gesprochen, berichtet Basile, der trotzdem nicht so richtig verstehen will, warum fanatische Islamisten Andersgläubige einfach so erschießen. Der zwölfjährige Fan von Olympique Marseille, dem HSV und vom FC St. Pauli spielt bei UJA Maccabi Fußball. Außenverteidiger. In seinem Team würden Katholiken, Juden und Moslems spielen – und keiner würde den anderen töten wollen. „Ich hoffe, dass es trotz allem eine tolle EM wird“, sagt Basile.

Ähnliches hofft auch Jean-François Martins. Der stellvertretende Bürgermeister von Paris spricht über zusätzliche Polizisten und Soldaten für das Fußballturnier, über Sprengstoffhunde beim Eiffelturm-Fanfest und Metalldetektoren vor den Stadien. „Das Stade de France wird neben dem Flughafen der sicherste Ort in ganz Paris werden“, sagt Martins, den die Nachfrage einer Journalistin sichtlich irritiert. Ob die ganze Sicherheit den Menschen und der Stadt nicht die Freude am Fußball nehmen könnte, fragt sie. Martins nimmt einen großen Schluck Kaffee, um Zeit zu gewinnen. Dann sagt er: „Es gibt nie zu viel Sicherheit. Wir wollen ein fröhliches, aber vor allem ein sicheres Turnier ausrichten.“

Livia ist skeptisch. Sie will nur eines: endlich wieder ruhig schlafen.