Hamburg. Erstmals in dieser Saison durfte der Chilene von Anfang an spielen. Spätestens seit dem Schalke-Spiel weiß man, wie sehr er das HSV-Spiel prägen kann

Wer Marcelo Díaz am trainingsfreien Montag sehen wollte, der musste nur den neusten HSV-Katalog aufschlagen. Ein Werk, so dick wie ein Telefonbuch, voller Trikots, Autogrammkarten, blau-weiß-schwarzer Toaster und Krawattenklammern. Und auf Seite 9: Díaz im Stadion, Seite 28: Díaz beim Kopfball, Seite 53: Díaz im Kapuzensweater und auf Seite 111: Díaz beim Schnibbeln in der Küche. Über mangelnde Kreativität im Fanartikelbereich kann sich wirklich kein Anhänger beschweren. Der HSV bietet Duschvorhänge mit der Raute, Zahnbürsten, Eierbecher und Salzstangen. Doch ein echter Renner ist und bleibt: das Díaz-Trikot mit der Rückennummer 21.

500-mal ist das Shirt des Chilenen in dieser Spielzeit bereits verkauft worden. Dass Díaz ein Verkaufsschlager beim HSV ist, überrascht nicht. Immerhin war er es, der mit seinem Last-Minute-Tor gegen Karlsruhe vor vier Monaten den HSV überhaupt erst am Leben gehalten hatte. Der Spruch „Tomorrow, my friend. Tomorrow“, mit dem Díaz vor seinem Freistoß Rafael van der Vaart in die Schranken wies, ist seitdem Kult. Oder besser: Díaz ist Kult. Einerseits. Doch zu dieser Geschichte gehört natürlich auch ein Andererseits: So durfte der Fan-Liebling, der ganz nebenbei im Sommer mit Chile die Copa América gewann, seit dem Tomorrow-my-friend-Spiel keine Bundesligapartie mehr von Anfang an bestreiten – bis zum Sonnabend gegen Schalke 04.

„Ich habe mich gefreut, mal wieder von Beginn an auf dem Platz stehen zu dürfen“, sagte Díaz, der nach vier Monaten ohne Startelfeinsatz beim HSV auch keine Anpassungsprobleme gehabt hätte: „Ich habe mich wohlgefühlt – mit dem Ball, mit den Mitspielern. Für mich ist es aber auch einfach, mit dem Ball umzugehen. Am Sonnabend war es zudem einfach, weil die Mannschaft ihren Rhythmus in den vergangenen Spielen gefunden hatte und sehr gut gespielt hat. So habe ich schnell zu meiner Sicherheit gefunden.“ Und trotzdem sei er natürlich traurig, dass er und sein HSV am Ende 0:1 gegen Schalke 04 verloren hätten.

Díaz sagte am Tag nach dem Spiel Dinge, die man als Fußballer am Tag nach einem Spiel eben so sagt. Was er nicht sagte: Der Südamerikaner hatte gegen Schalke die meisten Ballkontakte (91), die meisten Torschüsse (drei), er gewann die meisten Zweikämpfe (15), spielte die meisten Pässe (73) und die wenigsten Fehlpässe. Er war Hamburgs Denker und Lenker, ein 1,66 Meter großer Dominator. „Marcelo kann ein Spiel beherrschen. Er kann ein Spiel antreiben, ein Spiel bestimmen“, lobte Trainer Bruno Labbadia seinen neuen, alten Mittelfeldchef.

Dabei hat Labbadia im zentralen Mittelfeld in dieser Saison ein echtes Luxusproblem. Der Fußballlehrer hat die Qual der Wahl zwischen Mittelfeldstaubsauger Gojko Kacar, 4,5-Millionen-Euro-Mann Albin Ekdal, Talent Gideon Jung, dem wiedererstarkten Lewis Holtby und Neuzugang Aaron Hunt. Doch Díaz, der „König der Pässe“ („Der Spiegel“), ist möglicherweise genau der Spieler, der dem HSV in dieser Saison noch gefehlt hat. Bei der Copa América im Sommer brachte der Chilene 91,8 Prozent seiner Pässe zum Mitspieler, hatte die drittmeisten Ballkontakte aller Teilnehmer nach Bayerns Arturo Vidal und Barcelonas Argentinier Javier Mascherano. Laut dem Online-Fachportal „Spielverlagerung.de“ ist er „der ultimative Verbindungsspieler“, der ein herausragendes Gespür für die entstehenden Spieldynamiken und die dabei wichtigen Räume habe.

„Spielverlagerung.de“ feiert Diáz als den „ultimativen Verbindungsspieler“

„Marcelo gibt dem Kollektiv Struktur und Organisation. Er gibt dem Team seinen Spielstil und Rhythmus“, sagt der argentinische Fußballanalyst Matías Manna. „Díaz bleibt unter Druck ruhig, ist defensiv sehr gut, aber hält auch das Spiel am Leben.“

Dass aber auch dieser Díaz noch Luft nach oben hat, konnte man am Sonnabend in der 60. Minute beobachten. Zunächst verlängerte „Carepato“ (Entengesicht), wie Díaz liebevoll in Chile genannt wird, einen misslungenen Abschlag von Jaroslav Drobny unglücklich, dann konnte er seinen Fehler nicht mal durch ein taktisches Foul an Schalkes Vorlagengeber Leon Goretzka wiedergutmachen. „Er hätte in dieser Situation nicht mal ein taktisches Foul machen müssen, wenn er anders läuft. Wenn er vor dem 0:1 einfach nur mitläuft, dann passiert da wahrscheinlich gar nichts“, sagte Labbadia. „Schade!“

Dass Labbadia seinen kleinen Mittelfeldriesen wegen seines Fehlers aber gegen Hertha, das vor einem Jahr ebenfalls Interesse an einer Verpflichtung hatte, wieder auf die Bank zurückbeordert, ist unwahrscheinlich. „Ich konzentriere mich darauf, hart zu trainieren, um in die Startelf zu rutschen. Der Trainer entscheidet letztlich, einen Spieler aufzustellen – oder eben nicht“, gibt Díaz brav zu Protokoll. Auch in den Wochen, in denen er seine Fitnessdefizite nach der Copa América aufholen musste, war kein böses Wort von Díaz zu vernehmen. „Ich hatte die Entscheidung verstanden. Ich musste sie ja auch akzeptieren. Mir blieb nur, Geduld zu bewahren und auf meine Chance zu warten – und diese dann zu nutzen“, sagte der 28 Jahre alte Fußballer. „Ich denke, dass ich das gegen Schalke bewiesen und die Chance genutzt habe.“

Doch nur dabei sein reicht dem Copa-Gewinner, der nach dem Turniersieg über Nacht auch für die Neu­reichenliga in England interessant wurde, nicht. Nicht mehr. „Wir sind eine andere Mannschaft als vergangene Saison. Unser Ziel ist es, uns nun so weit wie möglich nach oben zu verbessern“, sagt er. „Wir treten in der Bundesliga nicht an, um nur dabei zu sein. Wir wollen etwas erreichen.“

Díaz hält Wort. In Chile weiß man das, van der Vaart weiß das – und auch in Hamburg wird man das bald wissen.