Frankfurt am Main. Nationalspieler Ilkay Gündogan über Transferirrsinn, die Flüchtlinge und seine Leidenszeit

Mit Fug und Recht darf man Ilkay Gündogan, 24, als gestandenen Nationalspieler bezeichnen. Sein Debüt für Deutschland liegt immerhin vier Jahre zurück. Und dass seitdem nur zehn Länderspiele hinzugekommen sind, hat natürlich Gründe. „Wahrscheinlich wären es ein paar mehr gewesen, wenn das alles nicht passiert wäre“, sagt der Dortmunder. Über „das alles“ und viel mehr sprach Gündogan vor den EM-Qualifikationsspielen am Freitag in Frankfurt gegen Polen und am Montag in Schottland mit dem Abendblatt.

Hamburger Abendblatt: Herr Gündogan, haben Sie Lust auf eine kleine Zeitreise?

Ilkay Gündogan: Dann mal los!

Wenn Sie die Uhr um ein Jahr zurückdrehen, woran müssen Sie da denken?

Gündogan: Dass es eine extrem schwierige Zeit für mich war. Wenn man es genau nimmt, dann war vor anderthalb Jahren die härteste Zeit. Ich war schwer verletzt, wusste nicht so recht, was mit mir los war, und dann musste ich auch noch die WM absagen. In meinem Kopf waren nur Fragezeichen, ich wusste nicht, was aus mir werden soll.

Hatten Sie zwischenzeitlich die Hoffnung aufgegeben, Ihr altes Niveau noch mal erreichen zu können?

Gündogan: Klar hatte ich Zweifel. Ich hatte nicht nur Zweifel, ob ich noch mal so gut wie vorher werden könnte. Ich hatte sogar Zweifel, ob es überhaupt noch mal reicht. Ich war einer totalen Unsicherheit ausgesetzt.

Zunächst hat man dann ein Nervwurzelreizsyndrom diagnostiziert, dann wurden Sie an der Lendenwirbelsäule operiert. Ist trotzdem noch ein bisschen Unsicherheit geblieben?

Gündogan: Nein. Jetzt fühle ich mich fit. Ich habe einen Haken hinter all dem gemacht.

Wie schafft man es, Fußball nicht zu verlernen, wenn man 422 Tage nicht spielt?

Gündogan: Puh, gute Frage. Wahrscheinlich steckt das irgendwo in einem drin. Man muss es nur rauslassen. Dazu braucht man vor allem Selbstbewusstsein.

Am Ende also alles Kopfsache?

Gündogan: Der Kopf spielt eine extrem große Rolle, klar. Das haben wir mit Dortmund vor allem in der vergangenen Saison bitter spüren müssen. Irgendwann haben die Dinge, die sonst ganz selbstverständlich klappen, nicht mehr geklappt. Das hat dann weniger mit den Füßen zu tun.

Was hat Thomas Tuchel mit Dortmunds Köpfen gemacht?

Gündogan: Es klingt banal, aber wir haben einfach Spaß am Fußball. Das sieht man wahrscheinlich auch.

Sie hatten das Privileg, mit Tuchel, Jürgen Klopp und Joachim Löw von den wahrscheinlich drei besten Trainern Deutschlands trainiert zu werden ...

Gündogan: ... und ich habe auch wirklich von allen dreien viel gelernt. Aber bitte fragen Sie mich jetzt nicht, ob man die drei vergleichen kann. Denn mit solchen Vergleichen wird man nie dem Einzelnen gerecht. Jürgen Klopp hat beispielsweise über sechseinhalb Jahre sensationelle Erfolge gefeiert. Da kann ein halbes schlechtes Jahr nichts kaputt machen. Und Thomas Tuchel hat jetzt ein neues Kapitel in einem neuen Buch aufgeschlagen. Bisher läuft es super.

Als einer von wenigen Namen wurde Ihrer auch nicht am letzten Tag der Transferperiode genannt. Haben Sie bei all dem Durcheinander auch mal am Montag den Überblick verloren?

Gündogan: Es war tatsächlich nicht ganz einfach, da noch durchzusteigen. Ich habe auf dem Handy versucht, die Transfernachrichten zu verfolgen, aber irgendwann habe ich aufgegeben. Es ist schon Wahnsinn, was da mittlerweile für Summen hin und her geschoben werden. Wahrscheinlich wird das alles noch schlimmer. Aber so ist nun mal der Fußball.

Machen Sie sich über diese Summen wirklich Gedanken?

Gündogan: Natürlich. Irgendwann muss man die Frage beantworten, was ein Fußballprofi, aber auch ein Mensch, wert ist. 75 Millionen Euro? Für einen Fußballer? Vielleicht für Lionel Messi. Aber sonst?

Muss es deutlicher gemacht werden, dass es hierbei nicht um den Wert eines Menschen, sondern um dessen fußballerischen Künste geht?

Gündogan: Klar, das ist ja auch so. Aber am Ende wird eben nicht nur ein Fußballer, sondern ein Mensch transferiert. Auch das sollte man nicht vergessen.

Am Freitag treffen Sie mit Deutschland auf Polen und Ihren Ex-Kollegen Jakub „Kuba“ Błaszczykowski, der gerade nach Florenz transferiert wurde ...

Gündogan: Ich freue mich auf ihn. Auch auf Robert Lewandowski und Lukasz Piszczek, die ich beide aus Dortmund kenne. Das gehört eben zum Fußballgeschäft dazu. Wäre das Spiel letzte Woche gewesen, dann hätte ich Kuba am nächsten Tag beim Training wiedergetroffen. Jetzt wird es bis zum nächsten Wiedersehen lange dauern.

Herr Gündogan, ein ganz anderes Thema. Sie selbst sind Deutscher mit einem sogenannten Migrationshintergrund. Was denken und fühlen Sie, wenn Sie von 71 Menschen hören, die elendiglich in einem Lastwagen verenden, weil sie ein besseres Leben in Deutschland wollten?

Gündogan: Ich fühle eine unendliche Traurigkeit. So etwas geht an keinem spurlos vorbei. 71 Menschen. Das ist einfach nur grausam. Ich kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen bestraft werden.

Auch Ihr Großvater, der als Gastarbeiter ins Ruhrgebiet ausgewandert ist und unter Tage gearbeitet hat, wollte vor vielen Jahren ein besseres Leben in Deutschland suchen. Er hat es in Gelsenkirchen gefunden, wo Sie geboren wurden. Was bedeutet Ihnen Deutschland?

Gündogan: Deutschland ist mein Zuhause. Es ist der Ort, an dem ich mich wohlfühle und an dem ich bis ans Lebensende bleiben möchte. Natürlich habe ich eine besondere Beziehung zur Türkei, aber meine Heimat ist und bleibt Deutschland. Und ich bin unglaublich dankbar dafür, dass ich hier aufwachsen durfte, weil mein Opa diese Strapazen auf sich genommen hatte.

Hat Ihr Opa Ihnen mal über diese Strapazen berichtet?

Gündogan: Klar. Er hat sein ganzes Leben in der Türkei stehen und liegen gelassen, um ein neues Leben anzufangen. Das war für ihn nicht einfach. Für so eine Entscheidung braucht man viel Mut und viel Ehrgeiz. Mein Opa hatte diesen Mut, hat dann meine Oma und später meinen Papa nachgeholt. Und für alle war das brutal schwierig. Keiner konnte die Sprache, dabei ist die Sprache für die Integration immer der entscheidende Schlüssel. Mein Opa musste sich das alles hart erarbeiten, aber er hat es geschafft.

Fragen Sie sich manchmal, wie Sie aufgewachsen worden wären, wenn Ihr Opa diesen Schritt nicht gewagt hätte?

Gündogan: Das habe ich mich schon häufiger gefragt. Dank meines Opas hatte ich die Möglichkeit, mir ein ganz anderes Leben zu ermöglichen. Und damit meine ich nicht nur Fußball. Ich konnte in eine gute Schule gehen, habe Französisch und Englisch gelernt. Wie gesagt: Sprache und Bildung sind am allerwichtigsten für Integration.

Fühlen Sie sich als Nationalspieler mit Ihrem Werdegang als Vorbild?

Gündogan: Definitiv, ja. Wenn man in der Öffentlichkeit steht, egal ob als Fußballer oder Schauspieler, schauen die Leute auf einen. Und dieser Verantwortung muss man auch gerecht werden.

Was sagt ein Deutscher wie Sie, wenn er die Bilder aus Heidenau oder von sonst wo sieht, wo gewalttätig gegen Flüchtlingsheime protestiert wird?

Gündogan: Dann macht mich das wütend, aber vor allem traurig. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es uns einfach zu gut geht in Deutschland und dass wir uns deshalb nicht in andere Menschen hineinversetzen können, denen es eben nicht so gut geht. Dabei reicht schon ein Blick zur Nationalmannschaft. Bei uns gibt es doch genug Spieler, deren Eltern aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. Ohne Zuwanderer wäre Deutschland nie Weltmeister geworden.

Glauben Sie, dass so weit ein Steinewerfer denkt?

Gündogan: Wahrscheinlich nicht. Umso trauriger macht mich das alles. Da ist dann aber auch die Politik gefragt. Ich wünsche mir einfach, dass alle Menschen, die nach Deutschland wollen, eine ehrliche Chance erhalten. So wie mein Opa.