peking. Bei der Leichtathletik-WM in Peking bezwingt Usain Bolt seinen großen Herausforderer Justin Gatlin im Finale über 100 Meter

Nirgendwo ist es so still wie beim Startschuss des 100-Meter-Finals bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften. Wer ist der schnellste Mann der Welt? Diese Frage fasziniert schon immer die Sport-Fans auf dem ganzen Planeten. Für einen kleinen Moment verstummt sogar die berechtigte Kritik an der Doping-Vergangenheit so manch eines Muskelprotzes. Es ist immer noch ein gigantisches Spektakel, wenn die Schnellsten der Schnellen ihren König ausrennen. Der eine trommelt die Bahn mit wuchtigen Schritten herunter wie der US-Amerikaner Justin Gatlin, der andere scheint über den Tartan zu schweben. Wie Usain Bolt, der am Sonntagabend im Vogelnest von Peking zu seinem neunten Gold bei Weltmeisterschaften flog. Der Jamaikaner setzte sich in 9,79 Sekunden hauchdünn vor Gatlin (9,80) und den zeitgleichen Andre de Grasse aus Kanada und Trayvon Bromell aus den USA (beide 9,92) durch.

Während der chinesische Starpianist Lang Lang die Ehrenrunde des Läuferstars mit seinen Klängen begleitete, flirtete Bolt mit dem Publikum, warf Luftküsschen in die Ränge und wedelte freudetrunken mit seiner Landesflagge. Beide lieben die Show, Lang Lang an den Tasten, Bolt auf der Bahn. Ob der Chinese der beste Pianist ist, lässt sich zumindest objektiv nicht beweisen. Bolt ist nicht nur ein begnadeter Entertainer, sondern auch der schnellste Mann der Erde, wie er an diesem Sonntag wieder bewies. Am Ende der Ehrenrunde tat er endlich das, worauf das Publikum die ganze Zeit gewartet hatte. Elegant ging er in die Knie, spannte den imaginären Bogen und schoss den Pfeil in die schwarze Pekinger Nacht. Mit dieser Geste wurde er vor sieben Jahren weltbekannt. Seit er bei den Olympischen Spielen 2008 an gleicher Stelle nach 100 Metern in bis dahin nicht für möglich gehaltenen 9,69 Sekunden ins Ziel kam, ist er der größte Star der Leichtathletik. Damals war er mit offenen Schnürsenkeln gelaufen und hatte die letzten Meter gar nicht mehr Vollgas gegeben, sondern die Arme weit ausgebreitet.

Sieben Jahre später hätten ihn solche Gesten das Gold gekostet. Bolt war an diesem Sonntag schlagbar, aber die größte Kunst des Sprintens liegt darin: so kraftvoll wie nötig, so locker wie möglich. Und so scheiterte Justin Gatlin an seinem Vorhaben, den König des Sprints vom Thron zu stoßen. Der 33-Jährige war in dieser Saison schon 9,74 Sekunden gelaufen und hatte seit 2014 in 28 Rennen keine Niederlage erlitten. Doch nur mit roher Kraft kann man einen Ästheten nicht bezwingen.

„Es war nicht mein bestes Rennen. Ich bin gestolpert“, sagte Bolt. „Dieser Titel bedeutet mir nach meinen Pro­blemen in diesem Jahr sehr viel. Mein Ziel ist es, die Nummer eins zu bleiben, solange ich laufe. Deshalb pushe ich mich immer wieder.“

Es war kein leichtes Jahr für Bolt. Sein Rücken zwickte so sehr, dass er häufiger bei seinem Vertrauensarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt in München als auf der Tartanbahn bei großen Meetings zu sehen war. „Er hat mir schon oft aus der Patsche geholfen“, dankte Bolt am Sonntag dem Doc: „Ich bin glücklich, dass ich ihn habe.“

Außerdem hatte er kleine Motivationsprobleme. „Ich habe schon alles gewonnen, also will ich gar nicht lügen. In irgendeiner Ecke meines Kopfes habe ich den Gedanken, stresse dich nicht, es ist kein olympisches Jahr. Deshalb war es hart, mich zu motivieren“, gab der Jamaikaner vor der Weltmeisterschaft zu. „Mein Trainer und meine Freunde mussten mich daran erinnern, dass die WM sehr wichtig ist, weil sie eine bedeutende Etappe vor Olympia 2016 ist.“

Bolt will noch bis zu den Weltmeisterschaften 2017 weiter auf Goldjagd gehen. Dann wird er 31 Jahre alt sein. Aber der Jamaikaner spürt auch schon heute, dass seine biologische Uhr anders tickt als früher. „Am schwierigsten ist es, das Gewicht zu halten. Als ich 22 Jahre alt war, habe ich vier, fünf Kilo innerhalb von einer Woche abgenommen. Heute brauche ich dafür einen Monat“, sagte er vor Kurzem in einem Interview mit der französischen Sporttageszeitung L’Équipe. „Ich esse fast nur noch Gemüse. Selbst wenn ich in ein Fast-Food-Restaurant gehe, nehme ich nur Salat. Das ist hart.“

Auch wenn der Liebhaber der jamaikanischen Süßkartoffel ungern über Doping spricht und immer wieder auf seine unzähligen negativen Tests hinweist, wird Bolt weiter damit leben müssen, dass auch seine Leistung hinterfragt wird. Die Rolle des Guten im Kampf gegen den Bösen wollte er hier in Peking ohnehin nicht spielen. Viele hatten sich gegen einen Start von Gatlin ausgesprochen, weil er bereits zweimal des Dopings überführt worden war. Mehr genervt haben Bolt die großen Sprüche seines Konkurrenten, der auch gern mit seinem goldenen Schmuck protzt. „Ich finde es witzig, dass Justin so viel schwätzt vor dem Rennen. Er ist aus der alten Schule, die machen das so. Es ist nicht schlimm, das macht mich nur heiß.“

So wie am Sonntag beim großen Showdown über 100 Meter. Das Duell der beiden so unterschiedlichen Sprint-Protagonisten geht in Peking weiter. Am Donnerstag steigt das Finale über 200 Meter. „Das ist meine Lieblingsdisziplin“, sagte Bolt nach seinem Triumph über 100 Meter und gab schon mal die Warnung an die Konkurrenz aus: „Der Sieg hat mir noch mehr Selbstvertrauen gegeben.“