Kuala Lumpur. Wirtschaftskraft entscheidet: Chinesen setzen sich mit 44:40 Stimmen gegen Almaty (Kasachstan) durch. Ein Albtraum für die Menschenrechte, kritisieren Olympiagegner

Die spitzen Freudenschreie gellten durch das gesamte weitläufige Convention Center. Im Medienzentrum fielen sich chinesische Journalisten um den Hals, am Eingang des Gebäudes bildeten junge chinesische Sportler ein Spalier für die nach und nach herausschreitenden Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Jeder dieser Passanten wurde gebeten, sich in die Gruppe der Claquere zu stellen, zu lächeln und mit allen anderen lauthals „Beijing“ zu schreien, was dann von laufenden Kameras festgehalten wurde. Den IOC-Delegierten schien die Aktion zu gefallen. Viele nahmen sich die Zeit, um multimedial mitzujubeln.

Die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2022 werden in Peking ausgetragen, das damit als erste Stadt nach den Sommerspielen 2008 auch Gastgeber von Winterspielen wird. Mit 44:40 Stimmen bei einer Enthaltung setzten sich die favorisierten Chinesen bei der 128. IOC-Session in Kuala Lumpur (Malaysia) gegen das kasachische Wintersportzentrum Almaty durch. „Das war ein glücklicher Sieg. Almaty war ein sehr starker Konkurrent“, kommentierte Yao Ming „erleichtert“ das überraschend knappe Ergebnis. Der ehemalige Weltklasse-Basketballer, 2,29 Meter groß, war das Gesicht der Pekinger Kampagne.

Das Votum hatte nach einer halben Stunde schriftlich wiederholt werden müssen, weil bei der elektronischen Wahl zuvor über Tablets 89 Stimmen registriert worden waren, vier zu viel. Stimmberechtigt waren 85 der 89 anwesenden IOC-Mitglieder, elf fehlten entschuldigt, Präsident Thomas Bach enthielt sich traditionell der Stimme. Nach der Panne hatte er kopfschüttelnd das Podium verlassen.

„Chinas Wirtschaftskraft hat wahrscheinlich den Ausschlag gegeben“, meinte Michael Vesper, der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Bach sah es ähnlich. Die mit dem Zuschlag verbundene Entwicklung eines großen Skigebiets könnte den entscheidenden „kleinen Unterschied“ ausgemacht haben: „Die Spiele 2022 ermöglichen 300 Millionen Menschen in China den Zugang zum Wintersport.“ Für ehemaligen ukrainischen Stabhochsprung-Weltrekordler Sergej Bubka war ein weiterer Faktor wichtig: „Dass jetzt Winterspiele dort stattfinden, wo bereits Sommerspiele ausgetragen wurden, stärkt ihre Bedeutung immens.“

Die Reaktionen der Olympiagegner fielen verheerend aus. Die Wahl Pekings sei ein Albtraum für die Menschenrechte, klagte Wolfgang Büttner (Human Right Watch). Ulrich Delius (Gesellschaft für bedrohte Völker) fürchtet, „Hunderte Menschenrechtler in China werden diese Fehlentscheidung mit Haft oder ihrem Leben bezahlen, da das Land vor den Spielen seine Verfolgung von Uiguren, Tibetern, Mongolen und Anhängern der Demokratiebewegung verstärken wird.“ Weil aber auch in Almaty Meinungsfreiheit und Menschenrechte wenig gelten, „hätte das Auswahlverfahren bei diesen Kandidaten ausgesetzt werden müssen, würde es das IOC mit den eigenen, in der Agenda beschlossenen Empfehlungen zur Wahrung der Menschenrechte ernst nehmen“, meinte der Hamburger NOlympia-Aktivist Florian Kasiske.

DOSB-Präsident Alfons Hörmann widersprach dem: „Obwohl dieses Bewerbungsverfahren vor der Agenda 2020 gestartet wurde, konnten wichtige Punkte nachverhandelt werden. Das IOC hat bereits im Evaluierungsbericht Themen wie Menschen- und Arbeitsrechte sowie Pressefreiheit pro-aktiv angesprochen und sich schriftliche Zusagen von beiden Regierungen zur Einhaltung der olympischen Charta geben lassen.“ Zumindest während der Winterspiele 2022 sei damit gewährt, dass diese Anliegen eingehalten werden.

In ihrer Analyse des Abstimmungsergebnisses waren sich Hörmann, Vesper und Bernhard Schwank, stellvertretender Geschäftsführer der Hamburger Bewerbungsgesellschaft, einig: „Das bessere, kompaktere und kostengünstigere Konzept von Almaty hat verloren.“ Dass aber 40 IOC-Mitglieder diesem gefolgt seien, mache Mut für die Hamburger Bewerbung, die ebenfalls auf Nachhaltigkeit setzt. Dass die Stadt vielen IOC-Mitgliedern unbekannt sei, müsse kein Nachteil sein, glaubt Vesper: „Dadurch erhalten wir viele neugierige Fragen, und wir haben die Chance, unsere Pläne zu erklären.“ (rg)