Baku. Der deutsche Titschtennisstar über die erzwungene Rolle des Sports in der Politik. Die Themen in Baku sind ähnlich wie in Peking.

Timo Boll rollt ein wenig mit den Augen. Er ist ein zu höflicher Mensch, um die Bitte abzuschlagen, seine gute Kinderstube hat den deutschen Tischtennis-Superstar zu einem Muster des Fair Play gemacht, einem weit über die Grenzen der Platte hinaus geschätzten Sportsmann. Aber dass er nicht viel Lust spürt, wieder mehr über politische Themen zu sprechen anstatt über den sportlichen Anreiz, den die ersten Europaspiele der Geschichte auf ihn ausüben, ist dem 34-Jährigen anzumerken. Und wer wollte es ihm verdenken? Immerhin war Boll schon 2008, als die Olympischen Spiele in Peking stattfanden, als intimer China-Kenner ein begehrter Gesprächspartner.

Nun also Baku, Aserbaidschan. Die Themen sind ähnlich wie damals in Peking: Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder Reporter ohne Grenzen prangerten vor dem Start der Wettkämpfe an, es fehle die Presse- und Meinungsfreiheit im Land, die Menschenrechte seien in dem von Ilham Alijew totalitär regierten Öl- und Gasstaat am Kaspischen Meer grundsätzlich beschnitten, rund 100 Regimekritiker säßen in Haft, nur weil sie gewagt hätten, gegen den Alijew-Clan aufzubegehren. Von den Sportlern wurde ein deutliches Zeichen des Protests eingefordert. Der Exil-Aserbaidschaner Emin Milli, der in Berlin die Internetseite meydan.tv betreibt, verstieg sich gar zu der Aussage, die in Baku antretenden Athleten seien Teil von Alijews Propagandaapparat.

Derlei Vorwürfe erscheinen Timo Boll zu extrem. Er hat zu den Ansprüchen, die an deutsche Sportler gestellt werden, eine sehr eigene Meinung. „Wir sind zwar mehrheitlich politisch interessierte Menschen, aber keine Menschenrechtsexperten. Ich habe mein Wissen über Aserbaidschan aus den Medien und würde mir gern mein eigenes Bild machen, bevor ich mich zu Themen äußere, die das Land betreffen“, sagt er. Als er vor den Peking-Spielen um seine Einschätzung gebeten wurde, sei das eine andere Situation gewesen. „Da hatte ich schon ein Bild von China und konnte einiges beurteilen.“

Umso interessanter ist, welche Lehren der Bundesligaprofi von Borussia Düsseldorf aus der Vergabe der Spiele an Peking gezogen hat. Boll hat auch nach 2008 seine engen Kontakte nach China, wo er aufgrund seiner vielen Aufeinandertreffen mit den heimischen Superstars ein sehr bekannter und populärer Sportler ist, aufrechterhalten. Im vergangenen Jahr wurde er mit Shandong Luneng chinesischer Mannschaftsmeister, in diesem Jahr spielt er im Sommer für Binzhou Wei Qiao. „Aus meiner Sicht haben die Spiele in Peking bewirkt, dass das Land immer offener wird. Natürlich sind weiter viele Internetseiten nicht zugänglich, aber es gibt viele kleine Schritte in die richtige Richtung.“

Aus diesem Grund hält er die Forderungen nach einem Boykott von Sportveranstaltungen in einem totalitären Staat für wenig zielführend. „Ich denke, dass es mehr nutzt, wenn solche Länder in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, anstatt sich einzukasernieren. So können Menschen aus aller Welt sich ihr eigenes Bild von Baku machen, die sonst vielleicht nie hierhergereist wären“, sagt er. Dass den Besuchern eine heile Welt vorgespielt werde, ist auch Boll bewusst. „Natürlich spürt man als Sportler in den Gesprächen mit der Bevölkerung vor allem die Euphorie, und ich weiß auch, dass Baku sich keine Blöße geben will.“ Aber wer mit offenen Augen durch Aserbaidschan gehe, der könne sich sehr wohl eine differenzierte Meinung bilden.

In den ersten Tagen in der Zweimillionenstadt, die auf faszinierende Art Moderne und Geschichte verbindet, hatten die deutschen Asse indes kaum Gelegenheit, mehr zu sehen als das Athletendorf im Norden der Stadt und ihre Wettkampfstätte, die Baku Sports Hall am Ufer des Kaspischen Meeres. Bereits am Sonnabend waren Boll, Dimitrij Ovtcharov, der als Botschafter der Europaspiele ein deutliches Zeichen für die sportliche Unterstützung des neuen Kontinentalwettstreits setzt, und Patrick Baum im Achtelfinale des Mannschaftswettbewerbs gefordert. Dem 3:0 über Spanien folgten am Sonntag ein Sieg im Viertelfinale gegen Schweden (3:2) und ein 2:3 im Halbfinale gegen Frankreich. Allerdings fiel Boll am Sonntag kurzfristig mit Magen-Darm-Beschwerden aus. Damit kämpft die Auswahl von Bundestrainer Jörg Roßkopf an diesem Montag (14 Uhr MESZ/Sport 1) möglicherweise ohne ihren bekanntesten Mann gegen Österreich um die Bronzemedaille.

Sportlich interessanter wird es für Boll und Ovtcharov von Mittwoch an, wenn sie nach Freilosen in der ersten Runde in den Einzelwettbewerb einsteigen. Der Sieger des für Freitag geplanten Endspiels hat das Olympiaticket für Rio in der Tasche; Tischtennis, Triathlon und Schießen sind die einzigen der 16 in Baku vertretenen olympischen Sportarten, in denen die Direktqualifikation für Brasilien möglich ist. Timo Boll würde gern das im Falle des Misserfolgs notwendige europäische Qualifikationsturnier auslassen, um die Pause nachzuholen, auf die er für die Baku-Teilnahme verzichtet hat. „Wenn es hier kein Ticket für Rio geben würde, dann wüsste ich nicht, ob ich überhaupt an den Start gegangen wäre.“