Berlin/Santo André. Vor einem Jahr landete die Nationalelf in ihrem WM-Quartier. Sie wurde Weltmeister – für die Dorfbewohner hat sich kaum etwas geändert.

Abblätternde Farbe und ein Trauma erinnern an die Deutschen. Die Laternenmasten auf der sandigen Dorfstraße von Santo André sind noch immer in Schwarz, Rot und Gold bemalt. Auf einem hat ein Bewohner quer über die Flagge „7:1“ geschmiert. Die epochale Halbfinalniederlage Brasiliens gegen die deutsche bei der WM im eigenen Land tut weiter weh. Aber sonst ist in dem 800-Einwohner-Örtchen im brasilianischen Bundesstaat Bahia kaum noch zu sehen, dass eine Mannschaft hier fünf Wochen lang wohnte, die später im fernen Rio Weltmeister wurde.

Vor einem Jahr landete Bundestrainer Joachim Löw mit seinem Team in Santo André. Es waren zwei Welten, die da aufeinandertrafen. Für den DFB wurde es eine Erfolgsgeschichte. Als erstes europäisches Team gewann Deutschland die WM in Südamerika. Santo André reiht sich ein in die Galerie der mythischen Orte, an denen der Geist für die deutschen WM-Titel entstand: Spiez in der Schweiz 1954, Malente 74 und Erba in Italien 90.

Oliver Bierhoff (M.) mit Pataxó-Indianern
Oliver Bierhoff (M.) mit Pataxó-Indianern © Getty Images/Martin Rose

Vor der Ankunft der Deutschen war das Fischerdorf am Atlantik zwar ein Tropenparadies, aber eines mit Problemen: Das Leitungswasser war braun, einen Polizisten gab es nicht, und in der Nebensaison, wenn die Touristen abgereist waren, standen viele Bewohner ohne Arbeit da. Doch diese WM sollte auch für Santo André zu einer Erfolgsgeschichte werden. Telefoniert man heute, ein Jahr danach, mit Dorfbewohnern, dann erfährt man allerdings, dass viele Hoffnungen unerfüllt geblieben sind: „Santo André ist in seinen Dornröschenschlaf zurückgefallen“, sagt Waltraud Busch, eine deutsche Exil-Bewohnerin. „Die Themen, die nach der WM gelöst werden sollten, wurden überhaupt nicht gelöst.“

„Santo André wurde benutzt“

Es gibt Leute im Ort, die das sogar noch drastischer ausdrücken: „Nichts hat sich geändert. Santo André wurde benutzt, jetzt kümmert sich niemand mehr darum. Man hat uns vergessen“, sagt Thiago Paixão. Der 25-Jährige arbeitet als Koch in einem Hotel im Dorf. Er war schon vor der Ankunft des DFB skeptisch, ob der Ort nachhaltig profitieren werde. Nun sieht er sich bestätigt: „Es ist, als wären die Deutschen nie da gewesen“, sagt Paixão.

Die Unzufriedenheit vieler Bewohner besteht aus einer komplizierten Gemengelage: Sie beginnt mit einem vom DFB versprochenen Fußballplatz für die Gemeinde, der lange nicht fertig wurde. Und sie endet bei einem verwahrlosten Trainingsplatz der deutschen Elf mitten in einem Naturschutzgebiet. Dazwischen gibt es Widersprüche und Anschuldigungen. Aber im Mittelpunkt der Kritik stehen die Besitzer des Campo Bahia, jener Luxusherberge, die nach den Bedürfnissen des DFB errichtet und später als „das beste WM-Quartier aller Zeiten“ von Verbandspräsident Wolfgang Niersbach gerühmt wurde.

Leá Penteado wohnt unweit des Campo Bahia. Früher arbeitete sie als Journalistin und trat als eine der größten Kritiker des Quartiers auf. Nun ist sie Sprecherin der Gemeinde Santa Cruz Cabrália auf der anderen Flussseite, zu der auch Santo André gehört. Am Montag hatte sie ein Fest zum einjährigen Jubiläum der deutschen Ankunft in Santa Cruz Cabrália organisiert. Aber auch sie sagt: „Es gab Umweltschäden durch das Campo Bahia.“ Die Besitzer hätten 300.000 Reais (86.000 Euro) zahlen müssen. Geld, das für eine bessere Wasserversorgung bestimmt war. Doch ein Jahr später zieht Waltraud Busch ein ernüchterndes Fazit: „Das Wasser ist immer noch braun.“

Trainingsplatz verkommt

Ein Dorfbewohner, der nicht genannt werden will, berichtet, dass der eigens für die DFB-Auswahl errichtete Trainingsplatz fünf Autominuten außerhalb des Ortes inmitten eines Naturschutzgebietes nun brachliege. Die Natur sei dabei, sich den Platz zurückzuholen. Die Besitzer des Campo Bahia hätten Rechnungen nicht gezahlt. Bewiesen ist das aber nicht. Rechtlicher Eigentümer des Campo Bahia ist Aquamarina Ltd., vertreten durch Christian Hirmer vom gleichnamigen Münchner Modeimperium. „Den Trainingsplatz gibt es noch. Er wird derzeit aber nicht benutzt“, sagt Steffen Bruhn, ein Sprecher des Campo Bahia. Auf Nachfrage, ob der Trainingsplatz tatsächlich nur noch als Skelett existiere, heißt es vom Campo Bahia, er sei heute nicht mehr in Betrieb, weil eine Idee für eine deutsch-brasilianische Fußballakademie des DFB von den Sponsoren nicht unterstützt wurde.

Glaubt man vielen Stimmen im Ort, hat das Campo Bahia ohnehin andere Probleme: Aus der exklusiven Unterkunft für die Nationalelf ist ein Ressort für Wohlhabende geworden. Will man in einer der 14 Villen schlafen, in der Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger wohnten, muss man ab 1800 Euro pro Nacht bezahlen. Die günstigste der 65 Suiten kostet 270 Euro. Braun gibt zu, dass das Campo Bahia nur eine Auslastung von 40 Prozent im ersten Jahr habe. Die Dorfbewohner glauben nicht mal dieser Zahl: „Leer, leer, leer“, antworten sie übereinstimmend auf die Frage, wie es dem Campo Bahia gehe. Einer, der dort arbeitet und nicht genannt werden will, spricht von durchschnittlich zwei Villen pro Monat, die gebucht seien sollen.

Dabei hatte der DFB versucht, positive Spuren in Santo André zu hinterlassen. Zum Teil ist das auch gelungen. Es wurde ein Förderfonds in Höhe von 200.000 Euro für die Zeit bis zur nächsten WM eingerichtet. Für die örtliche Schule wird über vier Jahre eine Nachmittagsbetreuung mit 100.000 Euro finanziert. Die erste Rate von 25.000 Euro sei überwiesen, sagt ein DFB-Sprecher. Seit April nehmen 48 Kinder daran teil. Waltraud Busch bestätigt das, sagt allerdings auch: „Das Geld reicht nur für zwei Tage in der Woche, aber immerhin.“ Sehr geholfen habe aber eine Spende von Nationalspieler Sami Khedira über 10.000 Euro.

DFB will letzte Inspektionsreise unternehmen

Für Ärger sorgt aber weiterhin der schon während der WM vom DFB versprochene Bolzplatz im Dorfzentrum. Nachdem die Verlegung des Rasens nicht voranging, hatten Bewohner ein Schild aufgestellt: „Wo ist der Platz?“ Und auch nach dem Turnier ist lange nichts passiert, sagt Thiago Paixão: Sieben Monate habe keiner daran gearbeitet. Bis heute sei er nicht ganz fertig.

Der DFB wird im kommenden Jahr eine letzte Inspektionsreise nach Santo André unternehmen. Man wird ein Paradies vorfinden. Ein Paradies, das die gleichen Probleme hat wie vorher. „Die WM kam, hat uns in Atem gehalte, und ist wieder gegangen“, sagt Waltraud Busch. „Santo André ist zu der Zeit davor zurückgekehrt.“