Karlsruhe. Dank eines Tores von Nicolai Müller gewinnt der HSV in Karlsruhe mit 2:1. Erst in der 91. Minute der regulären Spielzeit hatte der Chilene Díaz mit dem Ausgleich den Abstieg verhindert

Kai Schiller

Das altmodische Ziffernblatt der Anzeigentafel zeigte auf 21.30 Uhr, als die herkömmliche Wissenschaft aus den Angeln gehoben wurde. Dinosaurier sind ausgestorben? Von wegen! Der HSV hatte es also doch noch geschafft. Nach 120 Minuten siegte der HSV mit 2:1 gegen den Karlsruher SC. „Sechsmal deutscher Meister, dreimal Pokalsieger, immer Erste Liga – der HSV“, sangen die Hamburger Fans, die ihr Glück über den existenziell wichtigsten Sieg der Clubgeschichte kaum glauben konnten.

Einen ersten Sieg konnte der HSV bereits kurz vor Anpfiff feiern: Nach tagelangen Bemühungen der medizinischen Abteilung durfte sich Trainer Bruno Labbadia darüber freuen, dass er mit Ivica Olic (Rückenschmerzen), Ivo Ilicevic (Adduktorenprobleme) und Pierre-Michel Lasogga (Schulterpro­bleme) gleich auf alle drei angeschlagenen Offensivkräfte setzen konnte. Und wie wichtig das Trio in dieser Phase der Saison für den HSV ist, machte das Sturmtriumvirat bereits in den ersten drei Angriffen des Spiels deutlich. Erst ein Fernschuss Ilicevics (5.), dann ein Schussversuch von Olic (6.) und schließlich noch ein Freistoß mit anschließendem Nachschuss von Lasogga (7.). In nur 90 Sekunden hatten die wie verwandelt wirkenden Hamburger mehr Tormöglichkeiten als in 90 Hinspielminuten.

Doch die mehr als 3000 mitgereisten Hamburger wollten auch im weiteren Spielverlauf ihren Augen kaum trauen. Flankenwechsel, Kurzpassspiel und immer wieder gefährliche Pässe in die Tiefe. Mit anderen Worten: Die HSV-Profis machten im ausverkauften Wildpark das, was sie in 34 Saisonpartien und dem Hinspiel der Relegation sehr hartnäckig verweigert hatten – sie spielten Fußball. Besonders Kapitän Rafael van der Vaart ließ in seinem letzten Auftritt für den HSV immer wieder technische Fertigkeiten aufblitzen, die bisweilen an längst vergessene Zeiten erinnerten. Drei Jahre dauerte seine zweite Amtszeit in der Hansestadt, die allerdings mehr von Schlagzeilen außerhalb des Feldes als von fußballerischen Künsten geprägt war. Doch dass der Niederländer gewillt war, sich bestmöglich von seinem HSV zu verabschieden, das war an diesem schicksalhaften Montagabend in Karlsruhe zu spüren.

Dabei war der Holländer aber keinesfalls der einzige Hamburger, der erstmals in dieser Saison für so etwas Ähnliches wie Spielkultur sorgte. Und kritische HSV-Kenner, die nun dachten, dass der Zauber nach den stürmischen Anfangsminuten vorbei sein dürfte, wurden schnell eines Besseren belehrt. Ein Heber van der Vaarts (11.), Lasogga (18.), ein zweiter Versuch van der Vaarts (26.) und erneut Lasogga (39.) sorgten auch ohne echte Durchschlagskraft und ohne Hundertprozentige für so etwas Ähnliches wie ein Chancen-Feuerwerk, das sogar das überflüssige Pyro-Feuerwerk der HSV-Anhänger in den Schatten stellte.

Nur dieser eine Treffer, den der letzte Bundesligadino doch so sehr brauchte, der wollte nicht fallen. Im Gegenteil. Sekunden vor dem Halbzeitpfiff von Schiedsrichter Manuel Gräfe wäre zu allem Überfluss fast noch Karlsruhes Führungstreffer gefallen. Doch Daniel Gordons Kopfball landete auf statt im Tornetz. Somit lautete das großzügig berechnete Chancenverhältnis nach 45 Minuten: 7:1 für den HSV. Das entscheidende Ergebnis leuchtete allerdings überdimensional groß auf der Anzeigentafel 0:0.

Halbzeit. Durchatmen. Einmal kräftig schütteln. „Van der Vaart und Díaz sind bisher der Schlüssel des HSV, sie machen ihre Sache gut und öffnen mit Diagonalbällen das Spiel“, lobte ARD-Analyst Mehmet Scholl, der einst selbst als Schlüsselspieler im Wildpark brillierte. Doch nur loben ist Scholls Sache nicht: „Der HSV ist die aktivere Mannschaft, ohne zwingend zu sein.“

Der Experte hatte gesprochen – und er hatte recht. Zwar beließen Trainer Labbadia und Karlsruhes Markus Kauczinski dieselben 22 Protagonisten auf dem Feld, doch das Spiel war plötzlich ein anderes. Der HSV hatte noch immer mehr Ballbesitz, doch während er in der ersten Halbzeit nicht schlagkräftig genug wirkte, kam er nun gar nicht mehr vor das Karlsruher Tor. Die Abstände zwischen Mittelfeld und Sturm wurden mit zunehmender Spieldauer größer, die Hoffnung auf den erlösenden Treffer kleiner. Und statt des HSV war es plötzlich der KSC, der zu Tormöglichkeiten kam: Gordon rutschte samt Ball knapp am linken Pfosten vorbei (63.), der bereits im Hinspiel überragende Dimitrij Nazarov versuchte es (68.), und Gordons Kopfball (69.) musste Marcelo Díaz sogar von der eigenen Linie kratzen. Und Lasogga, Olic, Ilicevic und van der Vaart? Bis auf einen Lasogga-Kopfball (77.) kaum noch zu sehen.

Viel spektakulärer sollte ein Spielertausch wenige Minuten später werden. Karlsruhes Coach Kauczinski wechselte in der 72. Minute Reinhold Yabo für Hiroki Yamada ein – und konnte sein Glück nur sechs Minuten später kaum fassen. Einen Pass über Hamburgs Slobodan Rajkovic vollendet der Joker zum 1:0 (78.). Der erste HSV-Abstieg schien besiegelt.

Doch Karlsruhes Schocktreffer war gleichzeitig das Signal für Hamburgs Schlussoffensive, die aber trotz endlich hochkarätiger Torchancen (Lasogga/80., Lasogga/81., Diekmeier/81., Djourou/83. und Cléber (86.) zu spät zu kommen schien. Und während Karlsruhes Stadionsprecher in der Nachspielzeit die jubelnden Zuschauer ermahnte, doch bitte den Platz in wenigen Sekunden nicht vor Freude zu stürmen, legte sich Hamburgs Díaz ein letztes Mal den Ball am Strafraum für einen Freistoß zurecht. Der Chilene schaute, lief an – und traf unhaltbar in den linken Winkel. Was für eine Dramatik! 1:1 nach 94 Minuten – Verlängerung.

Was dann folgte, wird man wohl auch in weiteren 52 Bundesligajahren noch erinnern: Dribbling Stieber, Pass auf Cléber, Querpass auf Nicolai Müller – Tor (115.). Hamburgs drei Joker hatten gestochen – und der HSV bleibt in der Ersten Bundesliga. Der Wahnsinn hat drei Buchstaben: H-S-V!