Hamburg. Rosi und Wolfgang Steingrübner betreuen seit mehr als einem halben Jahrhundert den Nachwuchs von Gut Heil Billstedt

Rekorde halten den Sport in seinem Innersten zusammen. Weltbestleistungen, nationale oder ganz persönliche Höchstleistungen. Manche lassen sich nicht einmal mit Stoppuhr oder Zollstock messen. Im Osten Hamburgs etwa hat es ein Ehepaar zu einem Rekord gebracht, der seinesgleichen sucht: Rosi, 68, und Wolfgang Steingrübner, 71, sind seit mehr als einem halben Jahrhundert als Übungsleiter beim TV Gut Heil Billstedt aktiv. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr – von 1964 an.

Als „leuchtende Vorbilder“ bezeichnet der Vorsitzende der Hamburger Turner, Paul Gerhard Wienberg-Schaper, das Paar: „Man kann nur staunen, dass sie so lange klaglos durchgehalten haben – dazu in einem sozial eher schwierigen Stadtteil.“ Auch anderen ist das Engagement der Steingrübners nicht entgangen. Schon im Jahr 2000 ehrte Hamburgs damaliger Sportsenator Hartmuth Wrocklage die beiden mit der „Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes“. Vor zwei Jahren erhielten sie die Ehrennadel des Deutschen Turner-Bundes.

Ihren Anfang nahm die erstaunliche Geschichte 1961, als Wolfgang Steingrübner – selbst mal gerade volljährig – die Betreuung der Mädchenturngruppe bei Gut Heil übernahm, darunter die junge Rosi. Vier Jahre später heirateten die beiden. Schon im Jahr 1964 hatte auch Rosi begonnen, als Betreuerin zu agieren, an der Seite von Wolfgang. Seitdem sind die beiden in der Turnhalle wie im Privatleben kaum mehr ohne einander vorstellbar.

Der Spaß am Geräteturnen einerseits, die positiven Effekte des Sports auf Heranwachsende andererseits motivieren die Steingrübners: „Die Kinder liegen uns einfach am Herzen“. Zwar beschäftigen sie sich seit einiger Zeit mit der Idee des Rückzugs, doch das ist einfacher gedacht als getan. Mehrfach schien eine Lösung nah, mehrfach waren potenzielle Nachfolger bereits eingearbeitet, als dann doch immer etwas dazwischenkam: Heirat, Umzug, Studium, Beruf. „Wir können ja die Kinder nicht in die Wüste schicken“, kommentiert Wolfgang Steingrübner die Lage, „also machen wir weiter, solange es noch geht.“

Selbstverständlich ging es in 50 Jahren Tätigkeit nicht ohne Komplikationen ab. „Durchhänger gibts immer mal“, räumt Wolfgang Steingrübner ein, „beispielsweise in den Jahren, als unsere Halle immer baufälliger wurde und wir ständig improvisieren mussten.“ Tragebalken waren morsch, das Dach leck, es regnete rein und der Heizung entwich Asbest. Schließlich entschied die Politik: Abriss, Neubau, Wiedereröffnung im September 2014.

Als danach Meinungsverschiedenheiten über Nutzungszeiten mit der Schule und anderen Übungsleitern des Vereins aufbrachen, „da waren wir mitunter der Verzweiflung nahe“, erinnert sich Rosi Steingrübner. „Aber die Arbeit einfach so hinzuschmeißen, das kam nie in Betracht. Dazu hängt zu viel dran“. Und nicht nur für Gut Heil, auch für sie selbst: „Unser Leben ist nun mal der Sport.“ Der macht wieder mehr Spaß in der nagelneuen Turnhalle.

Ärgerlich nur, dass die Elektronik nicht immer läuft wie gedacht. So hängen die Sprossenwände unerreichbar knapp drei Meter über dem Hallenboden. Sie lassen sich nicht bei Bedarf herunterfahren, wie es eigentlich sein sollte. Es klemmt. Im Winter ist die Halle mitunter überheizt, weil die Fenster sich nicht automatisch öffnen, wenn eine bestimmte Temperatur erreicht ist. Aber sonst: ein grüner, elastischer Boden, beige Wandverkleidung, Fußbodenheizung, moderne Duschen und Umkleideräume – „schönes Arbeiten“, meint der pensionierte Bahnbeamte Wolfgang Steingrübner.

Momentan betreuen die Steingrübners 25 Mädchen aller Altersklassen. Es waren schon mal mehr Schützlinge, aber irgendwann entschied sich das Betreuertandem, nur noch mit einer Gruppe zu arbeiten. Da Jungs sowieso lieber Fußball spielen oder sich zu anderen Ballsportarten hingezogen fühlen, entschieden die Steingrübners sich für die pflegeleichteren Mädels.

Zweimal pro Woche, dienstags und donnerstags, ist Training. „Es geht uns nicht in erster Linie um Leistung, sondern um Bereitschaft und Fleiß“, erklärt Rosi. Der Erfolg komme dann von allein: „Notfalls machen wir hier aus Fäkalien Bonbons“, drückt die Trainerin es recht plastisch aus.

Nele Schütt turnt seit sieben Jahren unter Anleitung der Steingrübners. Die 14-Jährige lobt die „spaßige, lockere Atmosphäre“, wenngleich: „Rosi kann auch ganz schön streng sein, aber das muss wohl so sein.“ Schließlich hat der Club den Ehrgeiz, seinen guten Namen in der Hamburger Turnszene zu verteidigen. Nicht im Hochleistungsbereich des olympischen Gerätturnens, sondern im mittleren Wettkampfbereich sind die Billstedterinnen unterwegs, auf Augenhöhe mit renommierten Clubs wie der HT16 und dem ETV. Bei Hamburger Meisterschaften und Pokalwettbewerben im Gerätefünfkampf sind Podestplätze keine Rarität.

Bei alldem kommt es Rosi Steingrübner zuweilen so vor, als sei beim TV Gut Heil Billstedt die Zeit stehen geblieben, als sei „fast alles immer noch wie vor 50 Jahren“. Was auf Anhieb behaglich klingt, hat auch Kehrseiten. Der Verein ist überaltert, die Mitgliederzahl schrumpft. Trainerin Steingrübner kennt die strukturellen Probleme aus dem Effeff, sie arbeitete 15 Jahre lang als Geschäftsführerin für Gut Heil. Diese letzten vier Buchstaben, die so unangenehm nach Hitlerdiktatur klingen, haben mit Faschismus übrigens nichts zu tun, sondern mit dem Sprachgebrauch vor 115 Jahren, als der Verein gegründet wurde.

Wolfgang und Rosi Steingrübner werden ihrem Verein sicherlich helfen, solange es ihnen zu Gebote steht. Ganz nebenbei scheint das Geräteturnen auch als Ehekitt zu taugen. Die beiden feiern Ende des Jahres Goldene Hochzeit.