Hamburg . Viele Fußballexperten fürchten: Gegen die Macht des Geldes steht die Tradition, wie bei Concordia und St. Pauli, auf verlorenem Posten.

Im Fußball gilt nicht das Recht des Älteren, und es gibt Vereine, die gute Gründe haben, das zu bedauern. Der SC Concordia Hamburg ist so einer, gegründet 1907, ein Traditionsverein. In den Jahren nach dem Krieg traf der damalige Erstligist auf Clubs wie Werder Bremen und den HSV. Und beinahe, es ist gerade einmal zehn Jahre her, wäre der SC wieder zurück im Profifußball gewesen. Der Aufstieg von der vierten in die dritte Liga war sportlich bereits besiegelt, als der DFB eine schier unmögliche Forderung an den Verein stellte: Er soll ein neues Stadion bauen. 700.000 Euro hätte dieses gekostet, Geld, von dem der SC Concordia allenfalls träumen konnte. Er verzichtete notgedrungen auf den Aufstieg, und ließ Peter Menssing, damals wie heute Präsident des Vereins, mit einer drängenden Frage zurück: „Wo blieb denn da der Stellenwert der Tradition?“

Diese Begebenheit skizziert ein aktuell heiß diskutiertes Thema. Was tun mit Vereinen, deren Namen aus der deutschen Fußballgeschichte nicht wegzudenken sind, denen es aber nicht gelingt, genügend finanzielle Mittel zu generieren, um konkurrenzfähig zu bleiben? Die letztlich kapitulieren müssen vor der Macht der Millionen, mit der Konzerne wie VW, SAP oder Red Bull Klubs in Wolfsburg, Hoffenheim und Leipzig zu Höhenflügen verhelfen.

Auch der HSV zählt zur bedrohten Spezies

„Tradition – nur noch für Träumer“ hieß demnach passend das Thema einer Talkrunde im alsternahen Hotel „Le Méridien“, an der unter anderen der Ex-HSV-Profi Thomas von Heesen und der hanseatische Hymnensänger Lotto King Karl („Hamburg, meine Perle“) teilnahmen. „König Karl“ fühlt sich seit Kindestagen verbunden mit dem Stadtteilverein Barmbek-Uhlenhorst, fungiert heute aber als eine Art Botschafter des HSV. Viel unterwegs auf dem Erdball, weiß er: „Den HSV kennt man sogar auf den Philippinen.“

Gleichwohl zählt der HSV zur bedrohten Spezies klammer Traditionsvereine. Deshalb kramte Marketingvorstand Joachim Hilke Anfang des Jahres eine nicht ganz neue Forderung hervor: „Der HSV wird sich für einen veränderten Verteilungsschlüssel der Fernsehgelder einsetzen, weil wir das Gefühl haben, dass wir in Bezug auf unsere mediale Aufmerksamkeit nicht entsprechend honoriert werden. Wir sind immerhin einer der Hauptquotenbringer im Pay-TV“, erklärte er in einem Interview.

Doch als Hilke sich umblickte, bemerkte er, dass ihm niemand folgte. Funktionäre und Experten aus der Branche halten sein Ansinnen für realitätsfremd. Rainer Calmund etwa erklärte in seiner hemdsärmeligen Art: „Tradition ist Mist. Was zählt ist der Erfolg der Mannschaft.“ Diese Haltung hat Calmund nicht zufällig: Ihm gelang schließlich der Aufstieg zum Bundesliga-Manager in Diensten von Bayer Leverkusen, einem jener „Plastikvereine“, die namentlich vom Anhang geschichtsträchtigerer Clubs geächtet werden.

Wie definiert man den Begriff Traditionsverein?

Dem früheren Trainer und Manager des FC St. Pauli und heutigem Sportdirektor von Fortuna Düsseldorf (Deutscher Meister 1933, Pokalsieger 1979 und 80), Helmut Schulte, ist die HSV-Forderung zu schwammig: „Wie definieren wir denn den Begriff Traditionsverein? Und was ist, wenn ein Traditionsverein zusätzlich einen Großsponsor findet?“ Tradition sei schwer quantifizierbar, nicht umzurechnen in Zahlungsmittel. Er plädiere prinzipiell für eine Verteilung der TV-Gelder, die zu mehr Chancengerechtigkeit führen würde. „Financial Fair Play“ nennt er das und warnt: „Wenn der Sieger einer Bundesligapartie von vornherein feststeht, bröckelt das Fundament unseres Geschäfts.“ Schultes Fortuna tritt am Ostermontag im Millerntor-Stadion zum völlig offenen Duell zweier Traditionsvereine an.

Der über hundert Jahre alte FC St.Pauli – 2011 noch Erstligist, heute akut bedroht vom Abstieg in die dritte Liga – gibt sich unberührt von Debatten ums Geld. Zum einen ist das Stadion trotz schwer erträglicher Darbietungen häufig ausverkauft, zum anderen läuft das Merchandising rund. Die Marke „St.Pauli“ boomt, das Totenkopfsymbol prangt auf Kleidungsstücken ebenso wie auf Aschen- oder Eierbechern. Seit Anfang der 90er-Jahre, als Fans aus dem Viertel begannen, den Verein auf linksalternativen Kurs zu manövrieren, gehört der Kiezklub vom Bekanntheitsgrad her zu den Top Ten in Deutschland.

St. Pauli tanzt aus der Reihe. Der Anhang nimmt bei jedem Sponsor Witterung auf: Ist dessen Produkt sauber? Welche Gegenleistungen erwartet die Firma, die im Stadion werben will? Der neue Präsident Oke Göttlich meint, das Zeitalter quasi selbstloser Mäzene sei vorüber. Heute würden Großsponsoren in die Vereinspolitik hineinreden, und das gefällt ihm nicht: „Wir wollen unsere Unabhängigkeit erhalten, wollen ein Verein bleiben, der von seinen größten Förderern geführt wird, von den Fans und Mitgliedern.“ Hat er Erfolg, könnte der FC St. Pauli zum Hoffnungsträger für viele bedrohte Traditionsvereine werden. Noch zehrt Göttlich allerdings nur von dem, was seine Vorgänger in der Clubführung aufgebaut haben.

Die HSV-Raute wird zur Marke umfunktioniert

Beim HSV steuern sie seit jeher einen firmenfreundlicheren Kurs, gliederten die Fußballabteilung aus, um den „Partnern aus der Wirtschaft“ optimierte Möglichkeiten zur Selbstdarstellung zu ermöglichen. Die blau-weiß-schwarze Raute, die so viele Fans im Herzen tragen, wird zur Marke umfunktioniert, zu einem Symbol wie der Glücksklee auf der Dosenmilch oder der Stern am Bug der A-Klasse. Bislang hat es nichts gebracht, außer häufigen Querelen mit dem Speditionskaufmann Klaus-Michael Kühne, der dem Verein hin und wieder mit ein paar Millionen seines Vermögens aus der Patsche hilft, im Gegenzug aber ein erhebliches Mitspracherecht einfordert.

Viele fürchten: Gegen die Macht des Geldes steht die Tradition auf verlorenem Posten. Die „50+1-Regelung“ des Ligaverbandes DFL, die Vereine vor der kalten Übernahme durch Oligarchen oder Konzerne schützen soll, ist bereits durchlöchert. Der Vormarsch des Kapitals in die Führungsetagen des Profifußballs scheint kaum aufzuhalten.

Ob eine Bundesliga ohne ehemalige Deutsche Meister wie HSV und VfB Stuttgart, ob eine Zweite Liga ohne 1860 München und den FC St. Pauli an Faszination und öffentlichem Interesse verlöre, bleibt abzuwarten. Von Heesen bezweifelt das: „Den jugendlichen Fans wird der Fußball heutzutage ja nicht mehr über Tradition nahegebracht, sondern über die astronomischen Ablösesummen für einzelne Spieler.“

Geldzufluss befeuert Personalkarussell

Zugleich hat der ungehemmte Zufluss des Geldes dazu geführt, dass Spieler und Trainer mit immer höherer Geschwindigkeit durchgeschleust werden. Das Maklerwesen, das hier unter der Bezeichnung „Berater“ auftritt, befeuert das Personalkarussell unablässig. Für die Fans bedeutet es, sich in jeder Spielzeit an eine Vielzahl neuer Gesichter und Namen gewöhnen zu müssen, die sie beim Verlesen der Mannschaftsaufstellungen mitbrüllen sollen.

Und was wurde aus dem Traditionsverein SC Concordia? Früher, so heißt es, hätte der kleine Club in Marienthal eine Zeit lang die zahlenmäßig größte Jugendabteilung Europas unterhalten. Heute kämpft er um die nackte Existenz, musste seine Spielstätte an der Oktaviostraße verkaufen und mit Vereinen in der Nachbarschaft fusionieren. Das Konstrukt heißt Wandsbeker TSV Concordia. Präsident Menssing scheint nicht ganz glücklich mit der Lösung, aber er sagt: „Wir müssen froh sein, dass wir wenigstens noch unseren Namen haben retten können.“ So glimmt die glorreiche Vergangenheit, die Tradition, wenigstens noch für eine Weile weiter.