Hamburg. Edina Müller , einst eine Top-Rollstuhlbasketballerin, greift in einer neuen paralympischen Disziplin an. Die Hamburgerin will im Kanu nach Rio.

Nicht ins Wasser fallen. Konzentrieren. Gerade fahren. Es sind zwar nur 200 Meter Wasserlinie, doch Edina Müller muss sich sehr stark auf ihr Gleichgewicht fokussieren, um vom Hamburger Kanu Club über die Außenalster zum Mundsburger Kanal zu gelangen. Es ist windig in Hamburg und der Regen prasselt auf das kalte Wasser. Die Wellen auf der Alster machen es Müller an diesem Tag richtig schwer, die Kontrolle über ihr Kanu zu behalten. Nach wenigen Minuten ist der Wechsel auf das ruhige Gewässer des Kuhmühlenteichs geschafft. Hier kann sie in Ruhe trainieren.

Die 200 Meter Wasserlinie stehen symbolisch für den Wechsel, den Edina Müller in ihrem Leben vollzogen hat. „Ich brauchte eine neue Herausforderung“, sagt die langjährige Rollstuhlbasketballerin, die im vergangenen Sommer ihre Karriere in der Nationalmannschaft beendet hat und nun auf dem Wasser als Kanutin ein neues Ziel anstrebt. „Ich will noch einmal zu den Olympischen Spielen“, sagt Müller.

2012 hatte sie bei den Paralympics in London ihren sportlichen Höhepunkt erreicht: die Goldmedaille im Rollstuhlbasketball. Wenige Monate später wurde sie zu Hamburgs Sportlerin des Jahres gewählt. Zwölf Jahre, nachdem ihr bei einem Eingriff am Rücken die Beine einschliefen und ihr Leben im Rollstuhl begann. „London war so groß und so unglaublich. Da hat einfach alles gepasst“, sagt die querschnittsgelähmte Müller über den Moment, auf den sie jahrelang hingearbeitet hatte.

„Meine Entscheidung stand fest“

Umso schwerer fiel es der heute 31-Jährigen, sich für ihren Sport weiter jeden Tag neu zu motivieren. Hinzu kamen neue Strukturen und Veränderungen an ihrem Hamburger Trainingsstandort. „Die Entscheidung, mit dem Rollstuhlbasketball aufzuhören, ist über zwei Jahre gereift“, erzählt Müller. Nach der Silbermedaille bei der Weltmeisterschaft im Juni 2014 im kanadischen Toronto war es dann so weit. Müller gab offiziell ihren Rücktritt bekannt. Trotz der langen Überlegungszeit kam dieser Schritt für viele überraschend. Die Versuche, sie zum Weitermachen zu überreden, waren zwecklos. „Meine Entscheidung stand fest und ich bereue sie bis heute nicht.“

Dass Müller nur ein halbes Jahr später in einer völlig neuen Sportart das Unternehmen Paralympics starten sollte, war bis dahin zu keinem Zeitpunkt geplant. Ein Freund lud sie im Sommer zum Bundesstützpunkt nach Halle ein. Einfach mal ein bisschen ausprobieren. Bundestrainer Mathias Neubert war auf Anhieb überzeugt von Müllers Fähigkeiten. „Der Sport hat mich sofort gepackt“, sagt Müller. Das einzige Problem: Sie hatte weder einen Trainer in Hamburg noch ein richtiges Rennboot. Also schrieb Edina Müller eine Email an den Hamburger Kanu Club – und landete bei Arne Bandholz. Der Rennwart des Vereins arbeitet zwar seit 20 Jahren als Kanutrainer, Erfahrung mit Parakanuten hatte er aber noch nicht gemacht.

„Ich musste mich erst mal einarbeiten“, sagt Bandholz. Die größte Schwierigkeit war es, das richtige Rennboot für Edina Müller zu bekommen. Die Parakanus müssen breiter sein, damit die Sportler nicht aus dem Boot fallen. Bandholz ist es gewohnt, in einem 40 Zentimeter breiten Kanu zu sitzen. Das Kanu von Müller muss ein entschärftes Rennboot sein und misst 10 Zentimeter mehr Breite. „Man muss bedenken, dass die Parakanuten keine Kraft aus den Beinen holen und sich nicht vom Stemmbrett abdrücken können“, sagt Bandholz. „Es wäre zu instabil, sie in einem regulären Rennboot fahren zu lassen.“

Stabilität und Technik im Fokus

Für den Trainer und seine Sportlerin gilt es im Moment vor allem, an der Stabilität und der Technik zu arbeiten. Die athletischen Voraussetzungen bringe Edina Müller mit, sagt Bandholz. Drei bis vier Mal die Woche arbeitet sie mit einem von drei Trainern des HKC an den technischen Feinheiten. In dieser Woche hat Müller sogar den Weg nach Portugal ins Plastex Canoe Village in Villa de Milfontes gesucht, um dort ein Trainingslager zu bestreiten.

Viel Zeit bleibt Müller nämlich nicht mehr, will sie sich noch in diesem Jahr für den Nationalkader qualifizieren. Am 19. April steht in Duisburg ein Sichtungslehrgang an. Schafft sie an diesem Tag über die olympische 200-Meter-Strecke eine Zeit unter 1,12 Minuten, hat sie eine Chance von Bundestrainer Neubert in die Nationalmannschaft berufen zu werden. Dann könnte Müller sich für die Europameisterschaft und später im Jahr für die Weltmeisterschaft qualifizieren. Dass sie die Zeit erreichen kann, hat sie im Training bereits gezeigt. „Wenn sie es schafft, ihr Boot gerade zu halten, bin ich sehr zuversichtlich“, sagt Trainer Arne Bandholz.

Der Glaube an die eigene Stärke macht sie so selbstbewusst

Dass Edina Müller keine lange Anlaufzeit brauchte, hat auch mit ihrer Liebe für das Wasser zu tun. Auf ihrem Seekajak fährt sie schon seit einiger Zeit auf der Alster oder mit ihrem Freund durch die Kanäle in ihrem Stadtteil Wilhelmsburg. „Ich bin einfach gerne auf dem Wasser. Dort kann ich die Welt von einer anderen Seite wahrnehmen“, sagt Müller. Ihre Welt, das war viele Jahre lang die Basketballhalle. Der Abschied von ihrer Paradesportart fiel ihr nicht leicht. Noch ist es ein Abschied auf Raten. In der Regionalligamannschaft des HSV Rollstuhlbasketball spielt sie noch ab und an, auch ihre ehemaligen Mitspielerinnen aus dem Bundesligateam sieht sie noch häufig. Müller arbeitet seit zwei Jahren als Sporttherapeutin im BUK Hamburg. Ihr Arbeitgeber ist Sponsor der BG Baskets. So trifft Müller ihre alten Kolleginnen häufig im Kraftraum. „Vielleicht fühlt sich der Sport dadurch nicht so weit weg an“, sagt sie.

In den kommenden Monaten könnte sich das ändern. Schafft Edina Müller den Sprung in den Nationalkader, würde sich die Trainingsintensität noch einmal erhöhen. Zudem hätte sie Chancen, in das Team Hamburg des Olympiastützpunktes aufgenommen zu werden. In Dulsberg trainiert sie zwar immer noch zweimal die Woche, doch ihren Kaderstatus hat sie durch den Sportartwechsel vorerst verloren. Auch das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit muss Müller erst wieder finden. „Es ist ein schwieriges Gefühl, dass ich mich selbst noch nicht einschätzen kann.“ Der Glaube an die eigene Stärke macht sie trotz der Ungewissheit so selbstbewusst. „Seit der Goldmedaille von London habe ich keine Angst mehr vor einer neuen Herausforderung“, sagt Müller. Sie muss niemandem mehr etwas beweisen. Wichtig sei ihr, wieder ein Ziel zu haben, auf das sie hinarbeiten kann.

Rio ist das Ziel

Das große Ziel heißt jetzt Rio de Janeiro. Zum ersten Mal werden im kommenden Jahr die Kanutinnen an den Paralympics teilnehmen. Auch ihr Trainer Arne Bandholz würde dann gerne dabei sein. Doch so eine Reise muss auch finanziert werden. Im Moment arbeiten die Trainer mit Edina Müller ehrenamtlich. Das gemeinsame Ziel verbindet sie. „Auch für mich ist das eine große Motivation“, sagt Bandholz.

Zumindest die ganz kalten Monate haben Müller und ihre Trainer jetzt hinter sich. Der Wind auf der Alster wird das Wasser zwar weiterhin zu Wellen formen, doch das Risiko, aus dem Boot zu fallen, ist im Sommer für Edina Müller wegen der höheren Temperaturen nicht mehr so angsteinflößend. Bislang ist ihr das auch noch nicht passiert. Aber der Moment wird kommen, sagt ihr Trainer, wo sie sich aus dem Wasser befreien muss, um wieder in das Boot zu wechseln. Für Edina Müller wäre es nur eine weitere Herausforderung. Sie wird, so viel ist sicher, auch diesen Wechsel meistern.