Auf Langfahrt – aber in kleinen Etappen. Eine neue Art Abenteuer, die ein großes Stück Jugend bewahrt. Eine Reportage von Bord

Die neben uns sind etwas laut beim Ablegen. Das weckt uns auf. Schaue auf die Uhr: Die Zeiger stehen auf zehn nach fünf. Der Himmel ist sonnig. Weiß wie Schaum treibt hier und da Wolkengebäck durch das Blau. „Lass uns auch losfahren“, sagt meine Frau. Wir stärken uns mit einem Kaffee, schwarz und süß, und legen frühmorgens im südschwedischen Kalmar ab. Mit guter Fahrt treibt uns der Westnordwest durch den Sund nach Norden. Heute morgen weiß ich wieder, warum Segeln Leben bedeutet. Du schmeckst die Luft, du trinkst den Himmel in dich hinein. Ich schwärme. Nein. Den Atem der See zu spüren bedeutet, mit allen Sinnen auf der Welt zu sein.

Kurz vor Mittag ziehen Amboss-Wolken auf. Achteraus über Kalmar hat sich der Horizont verdunkelt. Über Orknö zuckt der erste Blitz. Donner rollt über den Sund, der Wind dreht auf Nord. Wir laufen nach Osten ab, Richtung Sandvik auf Öland.

Herrgott, wie hat sich dieser Tag verändert! Eine halbe Meile vor der Einfahrt erwischt uns ein prasselnder Schauer. Zwei Versuche, vor dem Steg bei Seitenwind den Bojenhaken einzuklinken, schlagen fehl. Vor der anderen Pier, die in Windrichtung liegt, gelingt es dann gleich. Doch welch Druck auf dem Gurtband, das uns hoffentlich hält!

Noch ist die Vorleine nicht fest. MaryAnn rutscht auf dem nassen Holz der Pier, unser auf und ab tanzender Bugkorb verpasst ihr einen blauen Fleck. Kaum sitzen wir unter der Cockpitpersenning und atmen tief durch, trommelt Hagel nieder. Es braust, rattert und zischt wie eine Schüttgutladung knallharter Erbsen auf dem Deck. Wir schauen uns an: Späte Jugend hat ihren Preis.

In der Nacht, während der Böen, pendelt der Windmesser auf sieben Beaufort. Zwischen den Molenköpfen läuft kräftig Schwell in den kleinen Hafen. Die Heckboje, an der wir hängen, ist ganz unter Wasser gezogen, der Bug von „Najade“ schwingt bedenklich nahe an die Pier. Bin immer wieder aufgewacht. Schiff hinter die Pier legen, kriegst du das Manöver hin? Oder zweite Heckleine ausbringen? Mit dem Beiboot? Oder schwimmen und dann einfädeln? Lieber warten. Noch ein wenig warten. Und noch ein wenig. Das Gurtband hält die Bugnase knapp frei von der Pier. Beim Vorschwingen bleiben gerade noch einige Zentimeter Luft. Dann ist die Nacht vorbei. Und meine Frau sagt: „Abwarten war schon okay. Denk dran, du bist auch keine 20 mehr.“

Auf den Spuren von Kurt Tucholskys Roman „Schloss Gripsholm“

Ich denke an den Alten, den mit dem bunten Strickpullover und den blauen Augen, der mich vor Jahren nachts in Simrishamn ansprach, als er in heulendem Wind ein Fall seiner kleinen hölzernen Slup klarmachte und ich unsere Fender nachsah: „Da gehst du mir heute nicht raus mit deiner Frau“, sagte er. „Die Hanö-Bucht ist die Biskaya der Ostsee.“ Er hatte die Lebensklugheit eines 80-Jährigen, die Energie eines 40-Jährigen, und er suchte immer noch das Neue auf dem Wasser – voller Lebenslust und auf Langfahrt unterwegs.

Auf Langfahrt in kleinen Etappen. Ich denke an die beiden mit den grauen Haaren, die im Schärenfahrwasser eine kurze Zeit lang neben uns liefen. Sie hatten auf unserem Heck den Heimathafen-Schriftzug „Hamburg“ gelesen. Wir hatten die Hamburg-Flagge gesehen, die auf ihrer „Lopeka“ flatterte. „Wie weit im Norden wart ihr?“ „Uusikaupunki“, riefen sie zurück. Der Name des Hafens bedeutet auf deutsch Neustadt, er liegt ein gutes Stück nördlich der Aland-Inseln in Finnland. Für den, der einen Schritt vor den anderen setzt, lässt sich jedes Ziel erreichen. „Seit wann seid ihr unterwegs?“ „Seit Anfang April. Jetzt geht’s nach Hause“, jubelte die Bordfrau. Vier Monate auf einem doch kleinen Boot! Und die beiden hatten immer noch gute Laune. Von ihrer Generation – und es sah über die kurze Entfernung zu ihrem Boot so aus, als ob das auch unsere sei – von unserer Generation also sind viele auf Langfahrt in kleinen Etappen. Der Grund, so wäre eine nüchterne Antwort, ist, dass die Zeit für so lange Reisen erst ab einem bestimmten Alter ausreichend zur Verfügung steht. Ein Nebeneffekt wäre, dass wir da draußen auf dem Wasser weniger ausgeben, als wir es zu Hause täten. Wichtig und wahr ist aber, dass das Abenteuer dort draußen uns ein großes Stück Jugend bewahrt.

Weiße Wolken treiben vor sich hin. Ein Sommertag mit schwacher Brise. Die kommt leider von Nord – von dort, wo wir hinwollen. Der Diesel läuft, und der Autopilot ist Steuermann. Zwischen zwei Rundumblicken liest der Skipper: „Ein Kerker war da, in dem Gustav, der Verstopfte, Adolf, den Unrasierten, jahrelang eingesperrt hatte, und so dicke Mauern hatte das Schloss, und einen runden Käfig für die Gefangenen gab es und ein schauerliches Burgloch ...“ Die Sätze stammen von Kurt Tucholsky aus „Schloss Gripsholm“, das liegt westlich von Stockholm in Mariefred am Mälarsee, und der ist unser Ziel. Die Seekarten zeigen „Mälaren“, weit verzweigt, mit Landzungen und Buchten in jeder Richtung. Die Karten lesen sich wie Paradies. Mal sehen, wie himmelreich es wird.

Das Tor dazu ist die Schleuse von Södertälje. Sie hebt uns sanft ein paar Dezimeter empor und entlässt uns in den Linasund. Gerade an der engsten Stelle zieht eine haushohe rote Bordwand an uns vorbei. An Steuerbord bis zur Kanalböschung sind es auch nur noch wenige Meter. Aber von der Brückennock winkt der Käpt’n zur Bordfrau runter. Er nimmt uns die Beklommenheit des Augenblicks. Am Ende des Kanals geraten wir in eine neue Welt.

Auf der Anreise hoben sich die Schären zackig aus dem Wasser, zerklüftet, manchmal wie gesägt. Jetzt auf dem Mälarsee thronen sie wie runde Kuppeln. Die perfekt hineingeschnittene Ankerbucht gibt es selten, aber so viele Inseln, dass es zwischen ihnen viele, viele Verstecke vor Wind und Wellen gibt. Von dichtem Schilf umsäumte Ufer haben wir seit Wochen nicht mehr gesehen, der Mälaren hat viele. Eine andere Welt. Sanfter und weicher als die west- und ostskandinavischen Küsten.

Wir finden „Herrestaviken“ – eine von den wenigen rundum geschützten Buchten. Wir ankern im hinteren Teil, der „Gunnarsviken“ heißt. Wir sind das zweite Boot am Ankerplatz. Strahlender Sonnenschein. Es ist sommerwarm. Tauche zur Logge, dem Messinstrument für die Geschwindigkeit, herunter, die sich nicht mehr dreht. Kratze Seepocken ab, bis sie wieder funktioniert. Zwei Stunden später hat sich die Bucht mit sechs Booten gefüllt. Ein Adler zieht über uns hinweg. Und am späten Nachmittag fällt Regen. Das wechselhafte Wetter scheint hier – wenigstens in diesem Sommer – typisch zu sein. Beinahe schon mehr ein Landklima. Man kann sich darauf verlassen: Nach dem Regen scheint wieder die Sonne. Und die Wolken haben oft beides: schwarze Unterseiten und weiße Hauben. Auch mal umgekehrt.

In Mariefred, dem durch „Schloss Gripsholm“ unsterblich gemachten Städtchen, besuchen wir Tucholskys Grab. Fühlen uns wie aus der Zeit gefallen. Lehnen uns an die dicken Mauern vom Schloss. Wir bleiben vier Tage. Und gehen jeden Abend über einen Holzsteg zu einem kleinen, von großen Baumkronen geschützten Inselchen, das direkt vor der Schlossfestung liegt. Eine grüne Sitzbank steht darauf, die wir Liebesbank nennen. Wir reden. Dass wir so lange und über so vieles reden, liegt vielleicht daran, dass wir mit dem Boot und der langen Reise ein so großes, gemeinsames Projekt haben.

Südwest 3-4, der Wind steht güns-tig. Um 14 Uhr gehen wir raus. Um 15 Uhr passiert eine Regenfront. Wir drehen die Genua, unter der wir laufen, für kurze Zeit etwas ein.

Wir steuern die Durchfahrt zwischen Furuholmen und Prastholmen an, ändern den Kurs nördlicher – die Genua kann stehen bleiben – und segeln bis Granskär. Die versteckte Bucht ist kleiner als gedacht. Fünf schwedische Boote liegen vor Heckanker am Fels. Uns ist das zu eng, wir fahren außen rum zur Nordwestbucht von Killingen, ankern auf zehn Meter in einsamer Natur.

Statt „An Land gehen verboten“ steht hier „Willkommen auf Grönsö“

Granskär und Killingen sind Naturreservate. Auf dem Felsen hinter unserem Ankerplatz steht ein kleines Schild. Was wohl drauf steht? „An Land gehen verboten“, so etwas erwarte ich. Tatsächlich aber steht da „Willkommen auf Grönsö“. Es folgen nette Verhaltensregeln, ist eben Schweden. Einziger Nachteil: Die Klippe, an der sich am schönsten mit dem Beiboot anlanden lässt, ist ein Königreich der Ameisen. Von und zu ihrem anderthalb Meter hohen Wohnhaufen, nicht weit vom Ufer im Schutz von Birken und Kiefern, strömen Zigtausende der kleinen Tiere hin und her. Zwischen kantigen und runden Steinen haben sie ganze Fernstraßen freigeräumt. Ein Urwelt-Gewimmel. Einige haben es sogar vom Uferrand ins Beiboot geschafft. Meine Aqua-Sandalen sind schon voll von ihnen. Ritze-ratze aus der Schäre kommen Ameisenheere. Was Natur betrifft, scheint hier wirklich alles in Ordnung.

Der nächste Tag bringt uns 23 Grad. Mittags verlassen wir Ryssgraven, setzen Segel und kreuzen nach der Enge von Lindsund bis Oxsten. Ein friedlicher kleiner Schlag von 14 Seemeilen. Wir laufen in die lang gestreckte Bucht hinter der größeren Insel Röllingen. Zwischen ihr und einer Schäre gegenüber der Siedlung Slaktebo liegt unser Ziel. Sieht auf der Karte und in Wirklichkeit wundervoll aus, gegen Ost, Süd und West geschützt. Aber ein großer Schoner liegt schon drin.

Also weiter bis in den äußersten Südsüdwest-Zipfel der Slakteboviken. Auf zehn Meter fällt unser Bruce-Anker. Am Hangufer hinter uns dösen weiße Rinder. Schüttelt die Leitkuh ihren Kopf, klingelt ihre Halsglocke. Ein Alpenton. Bis auf Wind aus Nord sind wir hier bestens geschützt. Wir ziehen das Sonnensegel auf, hören den Küstenwetterbericht auf Kanal 66: Nord haben wir nicht zu erwarten.

Der Sommer hat uns fest im Griff. Azurblauer Himmel, wolkenlos, das Thermometer ist auf 28 Grad geklettert. Wir schwimmen im 20 Grad warmen Mälaren-Wasser. Es hat keinen Salzgeschmack und leuchtet in der Sommerhelle freundlich hellgrün. Ich tue, was ich mir für diesen Platz vorgenommen habe: Steige auf den südlichen Fels„gipfel“ von Röllingen. 50 Meter hoch, steht im schwedischen Handbuch. Zwei Worte darin habe ich als Tipp gewertet: „Schöne Aussicht“. Das gäbe ein tolles Foto von der sonnigen Mälaren-Landschaft aus der Vogelperspektive. Aber ich hätte wohl auf den nördlichen „Gipfel“ klettern müssen: Selbst vom höchsten Felsblock aus, den ich auf dem Bauch zentimeterweise hochrutschend erreiche, versperren Baumwipfel den Blick. Es ist keine Enttäuschung, denn das Gefühl, etwas ausprobieren zu können, ist Belohnung genug.

Warum zieht es einen in Gegenden, die man doch schon einmal durchfahren hat? Die Hoffnung vielleicht, die betörende Schönheit einer Bucht wieder zu entdecken. Die Bucht wird schließlich erreicht. Sie ist immer noch betörend schön. Aber ihre Schönheit ist keine Entdeckung mehr, nur mehr eine Vergewisserung, dass alles noch so ist wie in der Erinnerung. Allerdings ist der kleine Seehund nicht mehr da, dessen große Augen damals gleich neben dem Boot auftauchten und die du nie vergessen hast.

Jede lange Reise hat ihre Dramaturgie – Vorfreude, Ablegen, die jungfräuliche Frische der ersten Tage unterwegs, die Härten, der Gipfelpunkt. „Und sie hat auch den Zeitpunkt“, sagt MaryAnn, „von dem an es nur noch nach Hause geht. Auf unserer langen ,Ostseeschleife’ zu den Aland-Inseln kam der Zeitpunkt damals, als wir den Göta-Kanal hinter uns hatten und unser Hund krank wurde.“ Wir blieben auf der Insel Hönö bei Göteborg, bis der kleine Scottie sich wieder berappelt hatte. MaryAnn: „Da war der Zauber der Ferne verflogen.“ Und wir rasten in gefühlten Riesenschritten heimwärts – wie Bergsteiger, die nach dem Gipfelsturm das Basislager in der Nähe wittern.

Diesmal ist der Punkt am 51. Tag erreicht. Ich hatte unseren Törn für einen Flug nach Hamburg unterbrechen müssen. Der Flug zerbrach den Spannungsbogen eines wunderschönen Sommers. Als ich nach Södertälje bei Stockholm zurückkehrte, sangen Skipperin und Skipper nur noch gemeinsam: „Rolling home …“ 20 Tage später legten wir im Heimathafen an.

Die Reportage erscheint in einer ausführlicheren Form in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Yacht“