Michael Stich freut sich über die starke Konkurrenz in der Weltspitze, erzählt, was ihn mit Andy Roddick verbindet und was er von Goran Ivanisevic erwartet.

Hamburg. Michael Stich ist entspannter Stimmung, als er das Abendblatt in seinem Büro an der Heilwigstraße zum Jahresabschluss-Interview empfängt. Der 46 Jahre alte Direktor des Herrentennisturniers am Rothenbaum freut sich auf die Gans zum Heiligabend und ein paar Tage Ruhe über den Jahreswechsel.

Hamburger Abendblatt: Herr Stich, das Tennisjahr 2014 ist seit ein paar Wochen beendet. Wie fällt Ihr Fazit aus?

Michael Stich: Wir haben eine sehr interessante Saison hinter uns. Besonders habe ich mich darüber gefreut, dass die Regentschaft der großen drei – Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic – gebrochen wurde von Stan Wawrinka und Marin Cilic. Vier verschiedene Grand-Slam-Sieger innerhalb eines Jahres gab es ewig nicht.

Hat Sie das überrascht?

Stich: Nicht wirklich. Ich hatte gehofft, dass das passiert, was jetzt passiert ist, nämlich dass eine neue Generation nachrückt, die den Topstars wenigstens gefährlich werden kann. Dennoch muss man auch die Leistungen der Platzhirsche anerkennen. Federer hat gezeigt, dass mit ihm weiter zu rechnen ist; da hat ihm sicherlich auch der Einfluss seines Trainers Stefan Edberg geholfen. Nadal hat trotz Verletzungssorgen zum neunten Mal die French Open gewonnen, das ist eine unglaubliche Leistung. Und auch Djokovic hat mit seinem Wimbledonsieg bewiesen, dass er weiter große Titel holen kann. Einzig Andy Murray ist in ein Leistungstief geraten, und ich bin gespannt, wie er 2015 zurückkommen wird.

Federer hat mit Edberg Erfolg, Cilic mit Goran Ivanisevic, Djokovic mit Boris Becker – was halten Sie von der Rückkehr Ihrer Generation als Trainer?

Stich: Ich halte das für sehr interessant, denn ich denke, dass insbesondere die Erfahrung, die die besten Spieler meiner Generation gesammelt haben, für die heutige Garde wertvoll ist. Es hat etwas gedauert, bis sich dieser Trend etabliert hat, wahrscheinlich auch deshalb, weil wir damals so gut verdient haben, dass niemand von uns sofort wieder arbeiten musste. Aber ich finde es toll, dass die Alten ihre Erfahrungen mit den Jungen teilen. Und es ist spannend zu sehen, welchen Trubel das teilweise auslöst. Damit muss ein Star ja auch erst einmal umgehen lernen, dass plötzlich der Trainer interessanter ist als er selbst.

Verfolgen Sie besonders, was Becker mit Djokovic erreicht?

Stich: Nein. Ich lese, was darüber berichtet wird, und so lange beide glücklich sind, ist das eine gute Sache. Novak gewinnt ebenso wenig, weil Boris mit ihm arbeitet, als dass er deswegen verliert. Es ist ein komplexeres Projekt, und wenn der Erfolg stimmt, nutzt es beiden.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Trainer zu werden?

Stich: Es gab vor einigen Jahren sogar mal ein Angebot von Andy Roddick. Mein früherer Manager Ken Meyerson hatte ihn unter Vertrag, daher kam die Nähe. Ich hätte gern mit Andy gearbeitet, weil ich viel Potenzial in ihm gesehen habe, das man wieder hätte hervorholen können. Aber er hat sich dann nach langem Hin und Her für Jimmy Connors entschieden.

Glauben Sie, es wäre für Sie das Richtige gewesen, mindestens die Hälfte des Jahres mit einem Spieler um die Welt zu reisen? Welcher der heutigen Profis wäre Ihnen das wert?

Stich: Heute könnte ich mir das nicht mehr vorstellen, es sei denn, Roger hätte mich gefragt. Er kommt meinem Ideal eines Tennisprofis sehr nahe, das hätte mir Spaß gemacht. Nadal oder Djokovic wären dagegen nichts für mich, weil sie ein ganz anderes Spiel spielen, als ich es Ihnen beibringen könnte. Und nur für die mentale Komponente bräuchten die mich nicht. Sie haben so viele Grand-Slam-Titel geholt, was sollte ihnen da einer erzählen, der gerade mal einen hat?

Wer sind die Spieler der jungen Generation, die Sie 2014 überzeugt haben, und die auch 2015 eine wichtige Rolle spielen werden?

Stich: Mir gefällt Grigor Dimitrov sehr gut, ebenso wie Milos Raonic. Aber am spannendsten finde ich Kei Nishikori, weil der sich abhebt von der Masse mit seinem Konterspiel. Der ist zwar kein Glamour-Star, der durch seine Aura auffällt, aber ich mag ihn sehr gern spielen sehen. Und ein Cilic ist natürlich auch zu beachten.

Viele dieser Namen konnte man in den vergangenen Jahren im Hauptfeld des Rothenbaum-Turniers lesen. Müssten Sie als Turnierdirektor nicht viel aggressiver damit werben, dass man in Hamburg die Zukunft des Tennis sieht?

Stich: Ich denke, dass das vielen Tennisfans schon bewusst ist. Der Rothenbaum war immer ein Turnier, bei dem sich Talente in den Vordergrund spielen konnten, denken Sie zum Beispiel nur an Nadal, der in Hamburg 2003 als 16-Jähriger seinen Mentor Carlos Moya besiegte. Damals ging sein Stern auf. Und in diesem Jahr hatten wir mit dem sensationellen Halbfinaleinzug von Sascha Zverev eine neue Erfolgsstory, die unserem Ruf als Talent-Event im Übrigen sehr gut getan hat. Dadurch ist der Rothenbaum wieder etwas mehr auf die Weltkarte des Tennis gerückt.

Andererseits hat Zverev mit seinem Durchmarsch die Messlatte sehr hoch gelegt. Viele Fans werden 2015 ähnliche Großtaten wenigstens erhoffen, wenn nicht erwarten. Kann ein dann 18-Jähriger diesem Druck standhalten?

Stich: Man sollte definitiv nicht erwarten, dass Sascha wieder das Halbfinale erreicht, denn das ist nicht realistisch. Den Bonus des Überraschungsspielers hat er nicht mehr, dazu kommt der Druck, die vielen Punkte verteidigen zu müssen. Aber mal ehrlich: Wenn er es nicht schafft, geht die Welt nicht unter. Ich habe ihm mehrfach gesagt, dass es Rückschläge und Enttäuschungen geben wird. Aber Sascha ist noch so jung, und er hat so viel Talent, dass er seinen Weg gehen wird.

Er wird ziemlich stark aus der Öffentlichkeit ferngehalten, hat nach Hamburg bei einigen 250er-Turnieren früh verloren und ist danach auf die Challengertour zurückgekehrt. War und ist das der richtige Weg?

Stich: Absolut, so ist das Tennis. Sascha wird versuchen, sich weiter zu etablieren und seine Punkte zu verteidigen, damit er den Weg in die Top 100 gehen kann. Dass er besonders im körperlichen Bereich noch zulegen muss, weiß er, und ich höre, dass er daran sehr akribisch arbeitet. Ich wäre schon zufrieden, wenn wir im Juli 2015 einen Sascha Zverev sehen würden, der sich körperlich und spielerisch weiterentwickelt hat. Denn nur darauf kommt es an, dann kommen die Ergebnisse schon von selbst.

Hielten Sie es für richtig, Zverev schon für den Daviscup zu nominieren, wie es Teamchef Carsten Arriens bereits überlegt hat?

Stich: Ich finde, es käme zu früh, ihn schon als Einzelspieler zu nominieren, das würde meines Erachtens niemandem etwas bringen. Aber ihn mal als Ersatzmann mitzunehmen, damit er sich an das Umfeld gewöhnt, warum nicht?

2012 hatten Sie die Finalteilnahme von Tommy Haas als Geschichte, 2013 die Rückkehr von Federer, 2014 die Geburtsstunde von Zverev – was wünschen Sie sich für 2015?

Stich: Am liebsten wäre mir, dass Tommy noch einmal ein Comeback schafft und sich am Rothenbaum als Aktiver von seinen Fans verabschieden kann.

Wird es wieder den Versuch geben, einen der drei Topstars zu verpflichten?

Stich: Dieses Ziel werden wir immer haben, aber wir alle wissen um die finanziellen Anforderungen, die das Trio stellt. Und wir haben mit der von der ATP durchgesetzten Preisgelderhöhung, die in jedem Jahr rund zehn Prozent beträgt, schon hart genug zu kämpfen. Ich ärgere mich darüber, weil ich finde, dass diese Erhöhung nicht angemessen ist im Vergleich zu dem, was die Spieler zurückgeben. Die ATP sagt, man könnte das durch besser dotierte TV-Verträge ausgleichen, aber das ist in unserem Fall ein Trugschluss.

Was könnten die Spieler oder die ATP denn mehr geben, als sie bisher tun?

Stich: Ich würde mir wünschen, dass man die Topspieler verpflichtet, die 500er-Turniere zu spielen, denn dann könnten wir das Preisgeld über mehr verkaufte Tickets reinholen. Aber anstatt die Profis zu verpflichten, streicht die ATP die Kompensationszahlungen, die es bis 2013 gab, wenn die vertraglich zugesagte Zahl an Top-20-Spielern nicht antrat. Das Verständnis der Spieler für die Veranstalter muss auf jeden Fall besser werden.

Für das Legendenmatch, das traditionell den Auftakt des Turniers bildet, haben Sie sich Goran Ivanisevic eingeladen. Angesichts vorangegangener Gegner wie John McEnroe, Ivan Lendl oder Mats Wilander fehlt der Glamourfaktor.

Stich: Ich denke, dass viele Tennisfans mit Goran durchaus etwas anfangen können. Er war schon immer ein besonderer Typ, etwas durchgeknallt, aber mit seinem Aufschlag unglaublich schwer zu besiegen. Es wird bestimmt sehr lustig mit ihm. Und da er durch die Arbeit mit Cilic jeden Tag auf dem Platz steht, wird er topfit sein. Da muss ich härter trainieren als zuletzt, was mir gar nicht gefällt (lacht).

Wann holen Sie Andre Agassi und Steffi Graf für ein Mixed gegen Barbara Rittner und Sie nach Hamburg?

Stich: Das ist eine charmante Idee, selbstverständlich würden wir das sehr gern realisieren. Ich würde auch sehr gern noch einmal gegen Stefan Edberg spielen, aber der spielt leider nur noch sehr selten. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja auch mal eine Schlacht der Geschlechter? Es gibt noch einige Ideen fürs Legendenmatch.

Bis 2018 haben Sie ja die Garantie, das Turnier veranstalten zu können. Glauben Sie, dass es danach auch unabhängig von Ihnen existieren könnte? Ist das überhaupt das Ziel?

Stich: Irgendwann muss es das Ziel sein, dass das Turnier wieder so tief in der deutschen Sportlandschaft verwurzelt ist, dass es unabhängig von Personen funktioniert. Wir sind da auf einem sehr guten Weg. Aber seien Sie überzeugt, dass ich mindestens bis 2018 mit ganzem Herzen dabei bleibe. Und ob es dann ohne mich geht, müssen sowieso andere beurteilen.

Zeit haben Sie ja, nachdem Sie im November Ihren Plan, Präsident des Deutschen Tennis-Bundes zu werden, nicht in die Tat umgesetzt haben. Können Sie Vorwürfe von Kritikern verstehen, Sie hätten gekniffen?

Stich: Nein, denn ich glaube, dass die, die mir das vorwerfen, nicht die ganze Geschichte kennen. Ich wollte mit dem Bundesausschuss, der den Präsidenten wählt, schon im Sommer meine Themen teilen. Man hat mich nicht anhören wollen, und als man sich dann zwei Wochen vor der Wahl doch dazu durchgerungen hat, war es für mich zu spät, seriös ein Team aufzustellen. Noch einmal: Es ging mir nicht um das Amt, sondern um die Sache. Das Amt des DTB-Präsidenten ist kein Amt zum Selbstzweck, sondern man dient dem System DTB. Dafür braucht man ein komplettes Team, und das hatte ich in der Kürze der Zeit nicht beisammen.

Hätten Sie nicht aggressiver Wahlkampf betreiben müssen? Was haben Sie aus den Querelen des Herbstes gelernt?

Stich: Vor allem, dass Kommunikation alles ist und man besser mit- als übereinander redet.

Haben Sie das umgesetzt und mit dem neuen Präsidenten Ulrich Klaus ein klärendes Gespräch geführt?

Stich: Nein, Herr Klaus hat sicherlich derzeit andere Sorgen, als sich mit mir zu unterhalten. Wenn er sich irgendwann dazu bereit fühlt, können wir gern sprechen. Aber ich bin nicht nachtragend, sondern gebe dem neuen, von den Mitgliedern gewollten Präsidium die faire Chance, uns alle zu überzeugen. Es geht, wie schon gesagt, nur um das deutsche Tennis, und wenn Herr Klaus und sein Team den Job gut machen, dann freuen wir uns alle.

Sie hatten allerdings angekündigt, sich mit Ihrem Schattenkabinett in den kommenden Monaten auszutauschen und ein eigenes Konzept für den DTB zu erarbeiten. Was wird aus diesem Plan?

Stich: Daran halte ich selbstverständlich fest. Ich werde mich mit den Menschen, die ein potenzielles Präsidium stellen könnten, zusammensetzen und ein Konzept erarbeiten, das man bei der nächsten Wahl den Mitgliedern präsentieren könnte. Ob wir das dann auch tun, muss die Zukunft zeigen.

Zum Abschluss bitten wir Sie noch um einen Blick in die nähere Zukunft. Was bringt 2015 dem deutschen Tennis?

Stich: Bei den Herren sehe ich leider keinen, der eine Überraschung schaffen und wenigstens mal ein Finale eines Mastersturniers erreichen kann. Dafür ist leider die zweite Reihe zu dünn besetzt. Dafür hoffe ich, dass es im Daviscup dazu reicht, wenigstens in der Weltgruppe zu bleiben. Die Ansätze waren in diesem Jahr doch durchaus positiv. Bei den Damen ist dagegen alles möglich, wenn Konstanz und Fitness stimmen, auch ein Grand-Slam-Finale mit deutscher Beteiligung. Ich bin überzeugt davon, dass das Fedcupteam nach der Finalniederlage in Tschechien noch motivierter ist, diesen Pokal zu holen. Die Chancen dafür sind groß. Und wenn Carina Witthöft sich dauerhaft in den Top 100 etabliert und vielleicht sogar ins Nationalteam rutscht, dann können auch die Hamburger Tennisfans voll zufrieden sein.