Vor seiner Titelverteidigung gegen den Polen Pawel Glazewski spricht Box-Weltmeister Jürgen Brähmer über wichtige Einschnitte und Abschiede in seinem Leben

Schwerin. Ausgeschlafen präsentiert sich Jürgen Brähmer, 36, beim Termin im Restaurant „Bernstein“ in Schwerin, und das ist nicht selbstverständlich. Der WBA-Weltmeister im Halbschwergewicht musste ja nicht nur die harte Vorbereitung auf seine Titelverteidigung gegen den Polen Pawel Glazewski verkraften, zu der er am kommenden Sonnabend (22.35 Uhr/ARD) in Oldenburg in den Ring steigt. Am 19. November brachte seine Verlobte Tatjana Sohn Joris zur Welt. Es war eine Hausgeburt, Brähmer ging der Hebamme zur Hand, das zweieinhalb Jahre alte Töchterchen Jasmin schlief im Nebenzimmer. Um nah bei der Familie zu sein, absolvierte der Profiboxer seine Vorbereitung diesmal in Schwerin. Die Geburt des Sohnes, sie ist ein weiteres einschneidendes Erlebnis im an Zäsuren reichen Leben des Jürgen Brähmer. Genau darüber wollten wir reden: über Einschnitte und Abschiede.

Hamburger Abendblatt:

Herr Brähmer, mit dem Kampfabend in Oldenburg endet die seit 2000 währende Partnerschaft zwischen Ihrem Promoter, dem Berliner Sauerland-Team, und der ARD. Was bedeutet es Ihnen, dass Sie bei der Abschiedsgala den Hauptkampf machen?

Jürgen Brähmer:

Ich empfinde das als große Wertschätzung, aber auch ein bisschen eigenartig. Eigentlich hätte Arthur Abraham diese Ehre gebührt.

Was sind Sie für ein Abschiedstyp? Eher cool, oder fließen sogar Tränen?

Brähmer:

Das kommt ganz auf die Art an. Grundsätzlich komme ich gut damit klar, weil ich weiß, dass das Leben schnell weitergeht. Zum Glück musste ich mich noch nie für immer von einem geliebten Menschen verabschieden. Wenn ich meine Tochter in den Kindergarten bringe, geht das mittlerweile auch problemlos. Sie sagt: „Papa zum Sport.“ Aber wenn ich mich im Schlechten von jemandem verabschiede, dann kann ich sehr nachtragend sein. So ein Abschied nagt dann länger an mir.

Lassen Sie uns über die Einschnitte reden. Sie waren elf, als die Mauer fiel.

Brähmer:

Als Kind hat man das alles zwar mitgekriegt, aber man hat die Konsequenzen nicht überblicken können. Das, was mich am meisten überrollte, war der Überfluss an Konsum, der möglich war für die, die ihn sich leisten konnten. Wir als Familie mit sieben Kindern gehörten nicht dazu. Für uns waren die Auswirkungen eher negativ, da meine Mutter ihren Job verlor und mein Vater in die alten Bundesländer musste, um Arbeit zu finden. Auf einmal hatten die Eltern nur noch mit sich selbst zu tun. Das kannte ich so nicht.

Was hat sich in Ihrem Leben geändert?

Brähmer:

Ich lebte damals in Stralsund, war Leichtathlet und sollte zur Sportschule nach Rostock gehen. Wir waren fest eingebunden in ein System, das aus Schule und Sport bestand, und es war immer ein Erziehungsberechtigter da, der auf uns aufpasste. Ich hatte eine tolle Trainerin, die wurde nach der Wende sofort entlassen, und da hörte ich mit der Leichtathletik auf. Auf einmal war da eine große Leere. Für mich brach die komplette Ordnung weg, meine Tagesstruktur. Man hatte viel Zeit und wusste wenig mit sich anzufangen. Man traf sich auf der Straße statt im Sportverein, und weil niemand mehr da war, der aufpasste, hatte man viel Zeit für Blödsinn.

Haben Sie der DDR irgendwann einmal bewusst nachgetrauert?

Brähmer:

Nein. Als Elfjähriger denkt man nicht so weit. Aber den kompletten Lebensrhythmus zu verlieren, ist für einen Heranwachsender sicher nicht gut.

Liegen hier die Gründe dafür, die Sie später mit dem Gesetz in Konflikt brachten?

Brähmer:

Man ist für sein Tun immer selbst verantwortlich, keine Frage. Aber sicherlich liegt in dieser Phase, in der mein Halt wegbrach, einiges von dem begründet, was später geschah.

Zunächst aber begannen Sie mit dem Boxen. Was hat dieser Schritt für eine Bedeutung für Ihr Leben gehabt?

Brähmer:

Ich hatte einige Sportarten ausprobiert und bin dann beim Boxen hängen geblieben, als ich 13 war. Ein Jahr später wurde ich Mitglied der Schweriner Sportschule und war fortan auf mich allein gestellt. An meinen ersten Trainer erinnere ich mich sehr gern. Er hieß Willi Ramin, und er hatte es mit unserer Gruppe wirklich nicht leicht. Wir waren anstrengende Burschen. Aber er hat uns nie wie Jugendliche behandelt, sondern uns als gleichrangig betrachtet. Dafür habe ich ihn unheimlich geschätzt. Als ich aus seiner Trainingsgruppe in die nächsthöhere versetzt wurde, war ich sehr traurig. Das war ein harter Abschied für mich.

Dann wechselten Sie jedoch zu Michael Timm, der Sie zum Weltmeister machte.

Brähmer:

Das konnte ich damals nicht ahnen. Ich blieb zunächst nur ein halbes Jahr bei Timmi, kam dann wieder in eine andere Gruppe, in der es mir nicht gefiel, weil die Struktur fehlte, die für mich wichtig ist. Es begann eine frustrierende Zeit, die damit endete, dass ich mich weigerte, weiter zu trainieren, weil man mich für sieben Bundesligakämpfe nicht bezahlt hatte. Das waren 14.000 D-Mark, die man mir schuldig blieb, eine Menge Geld für einen jungen Mann wie mich, der auf eigenen Beinen stehen musste. Von dem Moment an wurde der Sport nebensächlich.

Und Ihre dunkle Zeit brach an. War das wie ein Abschied von der Zivilgesellschaft?

Brähmer:

Die Frage ist, ob ich damals überhaupt Teil dieser Zivilgesellschaft war. Ich war in einer Lebensphase, in der mir alles scheißegal war. Ich hatte einen großen Fehler gemacht und gut dotierte Angebote aus Heidelberg und Magdeburg nicht angenommen. Wäre ich damals aus Schwerin weggegangen, wäre alles vielleicht anders gelaufen. Aber so war ich mit allem unzufrieden, und es war mir anfangs egal, was mit mir passierte. Später änderte sich das natürlich, als ich viel mehr reflektierte, und als ich merkte, dass mich mein damaliger Anwalt schlecht beraten hatte. Daraus habe ich viel gelernt.

Kann Strafvollzug in Ihren Augen dazu beitragen, Menschen besser zu machen?

Brähmer:

Ich halte den Strafvollzug in seiner jetzigen Form nicht für sinnvoll, weil er seine Ziele nicht erfüllt. Es gibt einige Häftlinge, die gehören hinter Gitter, keine Frage. Aber es gibt auch einige, bei denen man viel genauer gucken müsste, wo deren Probleme liegen und wie man daran arbeiten kann. Leider gibt es dafür zu wenig Geld und zu wenig Fachpersonal.

Sie haben damals immer den Eindruck gemacht, als könne Sie nichts erschüttern. War das gespielt?

Brähmer:

Nein, ich war schon immer ein Typ, der sich in Zeiten des größten Drucks gesagt hat: ‚Jetzt erst recht!’ Ich habe viel gesehen, alles in mich aufgesaugt und nichts vergessen. Und irgendwann schreibe ich alles auf.

Waren jene Jahre der prägendste Einschnitt Ihres Lebens?

Brähmer:

Nein, auch wenn der Zuspruch der Menschen in ganz Deutschland über die letzten Jahre mich immer noch beeindruckt. Es mag wie ein Klischee klingen, aber der prägendste Einschnitt war die Geburt meiner Tochter. In dem Moment wurde alles andere nebensächlich, weil ich gespürt habe, dass ich jetzt eine ganz andere Verantwortung habe. Aber es gab auch noch zwei andere ganz wichtige Einschnitte. Der erste war die Zusammenarbeit mit meinem Anwalt Jonny Eisenberg, die seit 2006 intensiv läuft. Er hat mir viele neue Sichtweisen gegeben und Lösungsansätze, die ich vorher noch nicht hatte. Das hat mich unheimlich geprägt. Und der zweite war, als Peter Hanraths 2005 als Geschäftsführer bei Universum aufhörte. Wegen ihm hatte ich 1999 dort unterschrieben.

Das war Ihr erster Arbeitgeber, Sie waren ein Zugpferd, Stallgründer Klaus-Peter Kohl bezeichnete Sie als Jahrhunderttalent und Ziehsohn. Sie sagten mal, Sie hätten viel von ihm gelernt. Heute werfen Sie einander Vertragsbruch vor. War die Trennung der frustrierendste Abschied Ihres Berufslebens?

Brähmer:

Als wir uns trennten, war das nicht mehr frustrierend, weil ich es kommen sehen hatte. Ich habe Universum und Herrn Kohl viel zu verdanken, ich habe dort gutes Geld verdient und viel Unterstützung erfahren. Aber seit Peter Hanraths weg war, ging es bergab mit dem Stall. Herr Kohl hat sich leider nicht mehr an Absprachen gehalten, und im April 2010 bei meiner Titelverteidigung gegen den Argentinier Plotinsky in Hamburg ging unser Verhältnis dann in die Brüche, weil ich nicht voll bezahlt wurde. Es war mein Fehler, da überhaupt in den Ring gestiegen zu sein. Ich spürte damals schon, dass nichts mehr war wie früher. Mit Kohls Nachfolger Waldemar Kluch hatte ich keine Probleme, er hat sich vertragsgerecht verhalten. Es war Herr Kohl, der Zusagen nicht einhielt.